Wer Kerzen aus Fett und Schreibfedern aus Fischgräten machen kann, überlebt im Kerker. Wer sich mit der Verbindung von Blut und Zitronensaft auskennt, entfernt hartnäckige Flecken. Wer weiß, warum Polylactid nachhaltiger ist als Polyethylen, kann die Welt verändern.
Wissen um Material, seine Herkunft und Verarbeitung ist heute begehrt wie selten zuvor, gleichzeitig jedoch spezialisiert, versteckt und expertengebunden. Wie aber wird in einer Welt, in der es aufgrund von Industrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung zu keiner Berührung mit tatsächlichen Rohstoffen und Materialien mehr kommt, Wissen um Material auch und vor allem für ein breites Publikum zur Verfügung gestellt?
Die Ausstellung erzählt die Geschichte des Lernens mit, über und durch Material – in den Wissenschaften und in der Schule, im Handwerk, Handel und Haushalt, im Roman und Film, im Archiv und Internet. Von Baumbüchern, Schlackenschotter, Muschelseide, Hasennudeln, Korkstoppeln, Wolkenleder und Bioplastik, von frühen DIY-Ratgebern bis zum digitalen Materialarchiv zeigt die Ausstellung, wie aktuell Materialbildung schon immer war, warum sie in Vergessenheit geriet und wie sie morgen aussehen könnte.
Im Zentrum der Präsentation stehen das Buch Lessons on Objects (1830) und die dazugehörige Object Lesson Box; ein kleiner Kasten, der über hundert Materialien enthält – von Gips über Blattgold bis Zucker und Reis. Buch und Box sind das Erbe der Geschwister Charles und Elizabeth Mayo, die die Anschauungspädagogik des Schweizer Reformpädagogen Johann Pestalozzi in ein verbindliches Unterrichtskonzept überführten. Exemplarische Dialoge fordern die Kinder dazu auf, durch Schauen, Anfassen, Riechen, Schmecken die unterschiedlichen Materialien zu erforschen. So werden über die Eigenschaften der Dinge hinaus auch Kenntnisse zu Sprache, Landeskunde und Naturwissenschaften vermittelt.
Dem dialogischen Prinzip der Object Lessons folgend, präsentiert die Ausstellung die Vermittlung von Materialwissen in insgesamt acht Lektionen.
Die erste Object Lesson erklärt, wie die „Idee der Elementarbildung“ und das Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“ (Pestalozzi) entsteht und skizziert die Rolle des Materials in der Reformpädagogik von Fröbel bis Montessori.
Die zweite Object Lesson „Proben, Reihen, Referenzen“ bietet mit filigranen Tierhaarproben und schwergewichtigen Steinen Einblicke in die Rolle des Materials für die naturwissenschaftliche Lehre: Hier wird scheinbar Gleiches endlos ausdifferenziert, aber auch Material zerstört, um es ganz genau kennen zu lernen.
Ein Drogenkasten aus der Pharmakologie-Lehre bildet die Brücke zur dritten Object Lesson, „Kalk, Kohle, Papier“, die Lehrmittelkästen zeigt, mit denen die tastbare Materialbildung hinter Glas wanderte.
„Muster, Macher, Händler“ ist der Titel der vierten Object Lesson, die den Herstellern und Handwerkern gewidmet ist. Hier erzählen unter anderem Hühnerfedern, Tonproben, Mosaikpasten und Schlangenhaut, warum der österreichische Kaiser zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu aufrief, sämtliche „innländische Fabricks- und Manufacturprodukte“ zu inventarisieren.
Die fünfte Object Lesson „Sand, Seife, Soda“ zeigt den Haushalt damals und heute als traditionsreichen Ort der Weitergabe von Materialwissen: früher mündlich, handschriftlich und in Form von Ratgebern für die Hausfrau, heute im Zuge einer ungeahnten Renaissance in zahlreichen Internetforen.
Gespräche über Material und seine Eigenschaften sind Thema der sechsten Object Lesson „My Dear Watson“, die dem Abenteuer-, Kriminal- und Science Fiction-Roman gewidmet ist. Hier ist Material ein Motiv, mit dem sich in Dialogform – der Object Lesson der Mayos ähnlich – spannende Geschichten erzählen lassen. So erklärt z.B. Sherlock Holmes seinem Sidekick Dr. Watson, wie er mithilfe von Material-Analyse Mordfälle löst (Arthur Conan Doyle). Neues und altes Material, so zeigt sich, enthält einen unendlichen Schatz an Wissen und wer etwas über Material weiß, kann sich retten und rächen, kann überleben und überführen.
Die siebte Object Lesson „Gut und Schön“ problematisiert die Materialbildung anhand der sogenannten Werkbundkisten der 1950/60er Jahre, einer geschmackserzieherischen Maßnahme für Schüler durch den Deutschen Werkbund, der sich seit 1907 der Vermittlung von Produktqualitäten in Hinblick auf Funktion, Form und Material widmete. Um die Aktualität des scheinbar veralteten Konzeptes der Geschmacksbildung zu zeigen, wird anlässlich der Ausstellung die Werkbundkiste mit neuen Materialien gefüllt und die moralische Aufladung von nachhaltigem und recyceltem als automatisch ‚gutem‘ Material kritisch befragt.
In der letzten Object Lesson „Archiv, Bibliothek, Netzwerk“ ermöglicht das Gastspiel des Schweizer Material-Archivs eine hands-on Auseinandersetzung mit Material. Das Material-Archiv verbindet digitale Informationsvernetzung elegant mit tastbaren Mustern und steht als zeitgenössische Object Lesson Box der historischen Kiste der Mayos gegenüber. Während aber das historische Kasten-Format den Anspruch, die ganze Welt des Materials in sich zu tragen, begrenzte, kann das digitale Archiv potentiell alle Materialien aufnehmen und zeigt damit die mögliche Zukunft der Materialbildung.
Es gab ein Rahmenprogramm während der gesamten Laufzeit der Ausstellung und eine abschließende Tagung im Januar 2017.