Aus einigen Zentimetern Entfernung ist die Täuschung bereits perfekt: Sofort entsteht der Impuls, die kleinen Ameisen von der Zuckerdose wegzuschnippen oder wegzupusten, schließlich will ja (fast) niemand Insekten im Heißgetränk haben. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass wir es hier mit Farbe und nicht mit Chitinpanzern zu tun haben.
Jede einzelne Ameise wird von der Künstlerin Evelyn Bracklow von Hand aufgemalt.
Die Abwendung von 08/15 Geschirr fängt aber schon bei den noch unbemalten Tassen oder Tellern an, welche die Künstlerin auf Flohmärkten erwirbt. Schon vor der individuellen Bemalung handelt es sich um Vintage Porzellan, nach der künstlerischen Verzierung könnte es kaum weiter entfernt sein von der industriellen Massenware, die sich der Werkbund gewünscht hätte.
Evelyn Bracklow ist selbstverständlich nicht die erste Künstlerin, die den in komplexen staatenähnlichen Systemen organisierten Wesen mehr Aufmerksamkeit schenkt. In zahlreichen Gemälden müssen die kleinen Insekten als Symbol für Vergänglichkeit und Tod, konkreter Verwesung, herhalten. Wenn auf manchen Geschirrteilen von Evelyn Brackow die Ameisen Obst verspeisen, spielt die Künstlerin direkt auf diese Tradition an. Der spanische Künstler Salvador Dalì war besonders besessen von hormigas, sie krabbeln durch mindestens 79 seiner Werke.
Dass in Zeiten von 6er-Pack Ikea Wassergläsern doch noch auf individuelles Design Wert gelegt wird, zeigt, dass der Werkbund mit seinem Appell zur Standardisierung dem durchaus menschlichen Distinktionsbedürfnis nicht ausreichend Rechnung getragen hat.
Die künstlerischen Unikate von Evelyn Bracklow sind jedoch unter einigen Hundert Euro nicht zu haben.