Überlegungen aus Anlass des 20jährigen Bestehens des Werkbund-Archivs, vorgetragen am 27. Mai 1993 im Martin-Gropius-Bau
Paradigmenwechsel im Museum? Darunter lässt sich viel fassen, aber wenig sagen – und umgekehrt. Ginge man das Thema museumshistoriographisch an, dann ließen sich ohne Umstände mehrere abendfüllende Veranstaltungen arrangieren; das geht freilich schon deshalb nicht, weil der Anlass heute Abend etwas von einem Geburtstag an sich hat und deshalb eine gewisse Konzentration von nöten ist. Orientiere ich mich aber allein an diesem Anlass, dann besteht die Gefahr, dass die Museumsgeschichte zum Aperçue wird, nur unter dem Aspekt jener Einrichtung gesehen wird, um die es geht; die Überlegungen mutierten rasch in eine Gefälligkeitsadresse oder sie gerieten in die prekäre Nähe zu einer Textsorte, die allzu große Ähnlichkeit mit dem Schönreden hat. An nichts von alledem ist mir gelegen.
Dreierlei habe ich mir vorgenommen. Erstens lasse ich mich, weil es die Höflichkeit gebietet, dennoch vom Anlass leiten (aber nur am Anfang), lenke also den Blick auf die Museumskonzeption des Werkbund-Archivs und beschreibe sie als neuartiges Paradigma der 70er und 80er Jahre. Dann löse ich mich vom Werkbund-Archiv und stelle ein paar allgemeinere Überlegungen an, zu „essentials“ musealer Arbeit, zu Museumsprinzipien, die quasi vor jedem Paradigmenwandel liegen, und zolle so dem Fragezeichen in meinem Titel Tribut. Vielleicht werden ja bei der wohlfeilen Rede von wechselnden Paradigmen allzu schnell Prinzipien und Selbstverständlichkeiten übersehen. Vieles von dem, was als neu angegeben wird, ist oftmals nichts anderes als das Alte und Selbstverständliche.
Drittens schließlich wende ich mich einer neuen Herausforderung an das Museum zu, einer Herausforderung, die, sagen einige, ein völlig neues Paradigma musealer Arbeit notwendig macht – oder aber, auch diese Behauptung hört man, eine noch intensivere Rückbesinnung auf die Spezifik, auf die eigentlichen Prinzipien musealer Arbeit.
Beginnen wir also mit dem Geburtstagskind. Nichts besseres fällt mir dazu ein als das Stichwort „Alchimie“.
I.
Alchimie, so weiß man, hatte es mit der Suche nach Verbindungen von Elementen zu tun, nach offenbaren, verborgenen, geheimen und auch universalen Verbindungen. Nicht auf das isolierte Einzelelement kam es ihr an, sondern auf die Kombinatorik, vor allem auf die Potenz, die indieser Kombinatorik vermutet wurde. Ihr Erkenntniswille war auf die Gebiete des Verbotenen, des Vorenthaltenen, des Unbewussten in der objektiven Welt, vielleicht auch des Unbewussten im Verhältnis von subjektiver und objektiver Welt gerichtet. Aus dem phänomenal Vorfindbaren soll das phänomenal Versteckte und nie Gesehene erschlossen, durch Versuchanordnungen herbei experimentiert werden. Die Alchimie verbindet so das Prinzip sinnlich-empirischer Erkenntnis, gewonnen aus einem katalogisierten Bestand, mit dem Prinzip imaginativer Spekulation, die auf Ungewohntes, Unbekanntes, Virtuelles aus ist.
„Alchimie des Alltags“, so war der Titel jenes Buches, welches das Werkbund-Archiv zur 1987 eröffneten Ausstellung im Martin-Gropius-Bau vorgelegt und, wie es in sympathischen understatement hieß, „als Gebrauchsanweisung für einen neuen Museumstyp“ angelegt hatte. (1) Es war ein Buch, in dem die Tugenden einer in Vergessenheit geratenen Wissenschaft mit den Herausforderungen eines neuen, eines diffusen Arbeitsfeldes zusammengebracht wurden. „Alchimie des Alltags“, das war nicht nur ein irritierender Titel, sondern ein Programm, und beides, Titel wie Programm, irritierte insofern, als beides eine fast unentschuldbar pagane Unbefangenheit im musealen Umgang mit der Welt, in der wie leben, verhieß. Damit war zwar ein gewagtes Interesse an Abgelegenem und Abgelegtem, an Abseitigem, Ungeprüftem, an traditionell nicht Zugelassenem kundgetan, damit war aber zugleich auch mit Entschiedenheit – durch den Begriff Alltag – ein Wirklichkeitspostulat zur Geltung gebracht. Alchimie und Alltag: das war eine Verbindung, die der Alltagsdokumentation mehr als nur die Musealisierung von Einzeldingen abverlangte, sondern die die Experimentier- und die Kombinationslust der Alchimie als Präsentationsprinzip neu entdeckte. In dem Buch, das den Turmbau zu Babel auf dem Cover zeigte, hieß es: „Die Alchimie des Alltags durchstöbert den Abfall, die Müllhalden des 20. Jahrhunderts nach Belegstücken, aus denen sich die neu entstehende Gestalt der Wahrnehmung und des Denkens konstruieren lässt. Sie entwirft Modelle der Vernetzung, in denen die neuen Entwicklungen der Natur- und Gesellschaftswissenschaft mit dem Alltag vermittelt werden und in denen ein neues Verhältnis von Wissenschaft, Technik, Kunst und Alltag aufscheint“.(2)
Was solcherart programmatisch zusammengefasst war, war zuvor schon in Ausstellungsetüden erprobt worden. Da war nach den Warengebirgen (1981) der „Vorkriegsgeschmack“ getestet worden (1982), da war im Marx-Jahr eine Ausstellung „Irre Waren“ gezeigt, und da waren 1984 unter einemTitel, der sich fast selbst als Schaustück exponierte, nämlich „op +pop, ex + hopp, sexy mick, tricky dick …“, „Szenen der 60er Jahre“ arrangiert worden. „Kaufhaus des Ostens“ hieß die letzte Unternehmung vor dem Umzug in den Gropius-Bau. Die Titel waren mehr als nur eine Allüre, sie waren stets auch Leseanweisungen, Hinweis auf Hintergründe, Vernetzungen und Zusammenhänge, die den ausgestellten Objekten Halt und Fassung und damit eine Deutung gaben. Wie die Titel, so waren die Inszenierungen: witzig, zynisch manchmal, inspiriert oft, zuweilen – im besten Sinn – auf eine Ästhetik der Plötzlichkeit setzend. „Ästhetik der Plötzlichkeit“, so hat Karl-Heinz Bohrer das Prinzip der Montage als spezifische Darstellungsform der Moderne umschrieben.(3)
Sie verhindert, dass die Objekte im falschen Schein einer Harmonie daherkommen und auf Versöhnung mit dem Betrachter aus sind. Nicht die beruhigende Synthese der Objektwelten war Ziel der Werkbund-Archiv-Arrangements, sondern eine Beunruhigung, die auf dem Wahrnehmungsschock als innovatorischer Überraschung basiert und so auf den erkenntnistheoretischen Witz zielt. Der Ausstellungsbesucher solltein eine Wahrnehmungssituation gebracht werden, die die vorherrschenden Betrachtungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt.
Lange bevor Peter Sloterdjik den Museen geraten hat, „Schule des Befremdens“ zu sein, haben die Alltagsausstellungen des Werkbund-Archivs das praktiziert, was Sloterdjik vom Museum erwartet, nämlich „eine Gesellschaft, die sich an Identifizierungen klammert in einen intelligenten Grenzverkehr mit dem Fremden“ zu verwickeln und so zu einer Agentur der „inneren Ethnologie“ zu werden.(4) Und exakt aus diesem Ansatz erklären sich auch die Sprachbilder, mit denen das Werkbund-Archiv seine Tätigkeit beschrieben hat. „In der Ausstellung schlägt der Fundus gleichsam die Augen auf und lässt sich in die’Seele‘ blicken“, so kann man beispielsweise lesen, oder auch die Notiz finden, dass es in Ausstellungen darum gehe, „Unterkellerungen der Wirklichkeiten“ zu zeigen. Exakt aus diesem Ansatz erklärt sich vielleicht auch die nicht nur heimliche Tendenz zum Surrealismus, die von Anfang an den Alltags-Dokumentationen des Werkbund-Archivs ein eigenes, ein unverkennbares Profil gab. Auf die Collagen von Max Ernst wird ebenso Bezug genommen wie auf die Ephemeren-Lehre und die“mythologie moderne“ von Louis Aragon. Schon bevor über und mit Benjamin (Benjamin gewissermaßen als Ko-Autor) eine Ausstellung gemacht wurde,(5) war Benjaminsches Museums- und Ausstellungsdenken, so wie er es in den Berliner Ausstellungsrezensionen der 20er Jahre und im Passagen-Werk entwickelt hatte, das theoretische Unterfutter der Werkbund-Archiv-Präsentationen. In den Begleitheften ist die Rede von „blitzartiger“ Erkenntnis, die die Objektarrangements bieten müssten, und damit ist eine von Benjamin selbst stammende Explikation seines“Schock“-Modells zitiert: Gute Bilder machen „blitzhafte Erkenntnis“ möglich („Der Text ist der langnachrollende Donner“) (6). Ähnlich wie bei Benjamin wird 1987 das Verhältnis Museum zur Ausstellung als Depot zum Experimentierraum bestimmt. Im Passagen-Werk werden Museen als „Traumhäuser des Kollektivs“(7) abgehandelt, in der Traumbeschwörung sah die Benjamin-Ausstellung das adäquate Mittel, sich ihrem schwierigen Gegenstand zu nähern. Immer wieder findet man auch das Insistieren auf der „Poetik“ des Museums, auf der Spezifik der Ausstellung als „selbständigem ästhetischen Medium“.
Radikal hat das Werkbund-Archiv schon in seinen ersten Ausstellungen – etwa in den „Phantasien von Frauen“ oder in den „Montagen ins Blaue“(1980) – mit den Prinzipien und Usancen der Dokumentation und Präsentation anderer Alltagsmuseen gebrochen. Herrscht in Volkskunde- und Heimatmuseen die Dignität des Einzelobjekts oder Funktionsensembles vor, so dominiert im Werkbund-Archiv das komplexe, zum Teil durchaus widersinnige Arrangement der Raumbilder, die man in der Tat, wie im Benjamin-Katalog vorgeschlagen, Denkbilder nennen könnte. Naturalistischen Darstellungen wird eine strikte Absage erteilt. Apodiktisch heißt es: „Ohne einen Grad von Verfremdung, der auf sehr unterschiedliche Weise erreicht werden kann, bleiben dem Betrachter die naturalistischen Inszenierungen, die lange als der dernier cri der Ausstellungsästhetik erschienen, oft wie ein Kloß im Halse stecken“. (8)
In der Tat kann man sagen, dass sich das Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts nie den Wonnen der Gewöhnung hingegeben hat, die inden meisten anderen Alltags-Museen zum Teil bis heute eifrig gepflegt werden – sowohl in den Dauerpräsentationen wie in den wechselnden Ausstellungsunternehmungen.(9) Hinter der kompromisslosen Neuorientierung standen – nach eigenem Bekunden – Anregungen aus der Kunstausstellungs-Praxis, wie sie sich in den 70er Jahren in der Tradition der 68er Bewegung entfaltet hatten (eine Linie übrigens, die mir nicht ganz klar ist) und vor allem die Herausforderung durch den Unternehmens-Untertitel: Alltagskultur des 20. Jahrhunderts. Mit der seriell gefertigten Alltagskultur, mit den medial gestanzten Mentalitäten, mit systemisch eingeübten Konsumgewohnheiten war ein Sonderweg des Sammelns und Ausstellens vorprogrammiert.
Anders als Volkskunde-, Kunstgewerbe-, Heimatmuseen, die alle wie sie selbst und mit Stolz sagen, auch dem Alltag verpflichtet sind, hat das Werkbund-Archiv-Museum seine Arbeit an den Bedingungen der Moderne ausgerichtet und war daher nie nostalgieverdächtig, wie es Alltagsdokumentationen mit ihrem Hang zur „einfachen Sittlichkeit“, zur Idyllik und Bukolik schnell sind. Man wird nicht falsch liegen, wenn man diese konsequente Ausrichtung auf der Moderne zurückführt auf das Erbe des Deutschen Werkbunds, der anders als die übrigen ästhetischen Reformbewegungen um die letzte Jahrhundertwende beim alltagsästhetischen und alltagskulturellen Formdenken bewusst Maß an der Industrie- und Massenproduktion genommen hatte und bewusst nicht der Rückkehr zur arts- and crafts- Bemühung das Wort reden, sondern das unumkehrbar Neue in den Blick nehmen wollte.
Alltagskultur des 20. Jahrhunderts: damit war „das Ensemble der Bedingungen, die das tägliche Leben strukturieren“, zum Dokumentations- und Forschungsfeld des Museums gemacht. Globalität, Vernetzung, Verschränkung von Wissenschaft, Kunst und Politik sind die Stichworte, die in den Werkbund-Archiv-Entwürfen zu einer Theorie der Praxis diskutiert werden. So wie die alten Volkskundemuseen ihre Dokumentation an den Bedingungen der Knappheitsgesellschaft, die lange Zeit ihr bevorzugter Gegenstand war, ausrichteten und so die isolierte Präsentation des kulturgeschichtlichen Objekts zelebrierten (oder aber wie hier in Berlin-Dahlem modo analytico, aseptisch arrangierten, als Antwort auf die Museumsgeschichte der NS-Zeit), so rückt das Museum der Alltagskultur im 20. Jahrhundert die Kombinationsvielfalt der Warenwelt und ihrer Gebrauchsformen multidimensional und integriert ins Bild. „Das vernetzende Museum“, so heißt es fast manifestartig, „entwirft begehbare Geschichtsbilder auf begrenztem Raum“.(10)
Was angestrebt wird, ist also nicht die Verdoppelung der Welt, sondern deren Erklärung durch Kombination und Beziehungsherstellung, durch Konstruktion von Dialog- und Diskurs-Situationen, in die die Objekte der Sammlung gestellt werden, wobei, das ist nicht unwichtig, die Dialogsituationen in ständig wechselnden Arrangements vorgeführt werden, wie es den Formen, Regeln und Gesetzen, vor allem aber der Dynamik der modernen Gesellschaft entspricht – und wie es vor allem in anbetracht der Bedeutungsvielfalt, der Polyvalenz, beinahe ist man versucht, mit Deleuze zu sagen, der Rhizom-Dynamik der Alltagsdinge naheliegt: das Korsett, man kennt das Beispiel, im Dialog mit dem Zylinder, mit der Mausefalle, mit dem Gebetbuch, mit dem Bikini, mit der Pickelhaube und, und, und. So wird der museale Gegenstand, obwohl in seiner „äußersten Konkretheit“ (11) vorgeführt, zum Stichwortgeber für die Re-Dimensionierung der Mentalitätsgeschichte vom Kaiserreich bis in die Gegenwart – als Indikator, (ich vermeide den Begriff „Leitfossil“, der aus anderem Zusammenhang stammt) (12), als Indikator eines zivilisationshistorischen Prozesses, der nicht nur durch Gradlinigkeit, Gleichmaß und Konsequenz, sondern auch durch Brüche, Retardierungen, in hohem Maß durch die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gekennzeichnet ist. Dass selbst „Blasse Dinge“ Farbe erhalten und unterschiedlichstes Kolorit aufweisen können, wenn sie im Dialog nach Herkunft, Gebrauch und Umnutzung befragt werden, zeigte eine Ausstellung 1989, in der nicht nur die „Ökonomie des Notbehelfs“, sondern der Nutzungs- und Symbolwandel im Wechsel von der Diktatur zur Demokratie aufgezeigt wurde; auch dies wieder an einfachen Gegenständen, in „äußerster Konkretheit“, eben an scheinbar blassen Dingen durchexerziert.(13)
II.
Die Erschließung der in die Einzeldinge inkorporierten differenten Eigenschaften ist den Moderatoren, Arrangeuren, Regisseuren des Werkbund-Archivs in aller Regel gelungen. Bei diesem Erfolg fragt es sich freilich, warum in den Texten oftmals dem Konkreten, dem Sinnfälligen misstraut und ihm mit Skepsis begegnet wird, so als müsse Adornos Benjamin-Schelte – zu sehr empirisch, zu wenig theoretisch („das schwerwiegendste ist das außerordentliche Zurücktreten formulierter theoretischer Gedanken gegenüber dem ungeheuren Excerptenschatz“) (14) – zum Modul der eigenen, der Werkbund-Archiv-Reflektion gemacht werden. Dabei irritiert zweierlei: einmal der offensichtliche Widerspruch zur gelungenen Art der Präsentationen und zum andern der Vorbehalt gegenüber den sinnlichen Erkenntnispotentialen, der Bildhaftigkeit des Denkens, denen Benjamin Einsicht und Lust abgewann.
Nach Hegel ist es ja gerade der Bestimmungsreichtum, der das Konkrete auszeichnet, seine Fähigkeit, in viele Situationen als Dialogpartner einzurücken, nicht nur in einer Rolle aufzutreten, sondern sich in funktionalen, instrumentalen, symbolischen und mentalen Beziehungen selbstbewusst zur Geltung zu bringen. Die Überzeugung, dass gerade im Gewöhnlichen und Gewohnten Unerwartetes zu entdecken ist (und dies ist ja Konstruktionsprinzip der Werkbund-Archiv-Ausstellungen) lebt vom Konkreten, das tatsächlich, nach Hegel, komplexe Eigenschaften zu entfalten in der Lage ist. Auf die phänomenologische Kraft des Konkreten vertrauend, kann Benjamin formulieren: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen“.(15)
Durch die Kombination und Montage, durch die Anordnung des Materials gelingt ihm die Darstellung des „Totalgeschehens“, wie er es nennt, und zwar durch die Befragung und Ausdeutung von Details und Einzeldingen, deren Bedeutungsvielfalt durch unterschiedliche Dialog-Situationen, zumTeil durch regelrechte Kreuzverhöre erschlossen wird – und zwar aufgrund der „äußersten Konkretheit“, in der die Phänomene vorgeführt werden. Die Konkretheit der Dinge ist es, die den Blick auf verschiedene Kontexte und unterschiedliche Bedeutungsfelder möglich macht. Dabei ergeben sich Zusammenhänge im Plural, denn die Konkretheit der Dinge verweist auf eine Vielfalt von Dingkombinationen, die die Voraussetzung von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, von Vielfalt der Sinnbeziehungen und Deutungsdimensionen ist. Dinge sind Träger von Bedeutungen, aber je nach Arrangement und Zusammenhang ändern sie Sinn, Funktion und Intention. Wie kaum eine andere Institution hat das Museum die Möglichkeit zur Ding-Kombinatorik, der ungewohnten, kühnen, inspirierten und verstörenden Anordnung von Gegenständen zur „Alchimie des Alltags“. Aus dem Gegenüber und Nebeneinander von Dingen ergeben sich Konversationen, Kontradiktionen und wechselseitige Erhellungen, entstehen Relativierungen und Reibungen, aus denen Bedeutungs- und Sinnfunken sprühen können. Manchmal entsteht bei diesen Laboranordnungen sogar ein Feuerwerk, wie es mitunter, gar nicht einmal selten, hier im zweiten Stock des Gropius-Baus zu besichtigen war.
Dinge sind aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit also konkret-bedeutungsvolle Zeichenträger; ihre semiotischen Qualitäten beziehen sie aus der Eigenartigkeit ihrer Dinghaftigkeit. Dinge im Museum, so lernen wir in der Museumslehre von Krzysztof Pomian, sind Semiophoren, „zweigesichtige Gegenstände“, die Sichtbares und Unsichtbares vermitteln; sie „bestehen aus einem Träger und aus Zeichen, die darauf angebracht sind“. Ihre (der Semiophoren) „Textur, Formen, Granulation, Farbe, Mattheit oder Helligkeit, Härte und Weichheit, kurz, alle sinnlichen Merkmale werden umgewandelt in Zeichen, die eine Beziehung herstellen sollen zwischen dem Betrachter und dem Unsichtbaren, auf das sie verweisen“.(16) Im Museum, so Pomian, beginnt die zweite Vita der Dinge: sie werden Semiophoren, die vom realen Leben anderwärts, anderen Orts und anderer Zeit, zeugen. Auch hier ist eine Rückerinnerung an Hegels in der Phänomenologie des Geistes entwickelte Ästhetik möglich und durchaus hilfreich. Hegelsieht in den Dingen Objektivationen des Geistes, der sich – auf dem Wege zu sich selbst – in den Dingen an die Zeit entäußert. So ist in den Dingen vergangenes Leben gleichsam eingekernt. Aufgabe einerjeweiligen Gesellschaft ist es, die „Erinnerung des in ihnen (in den Objektivationen) veräußerten Geistes“ zu dechiffrieren.(17) Artefakte sind, so wird man Hegel verstehen dürfen, Konserven vergangenen Lebens darum, weil sich in ihnen Ideen, Interessen und Hoffnungen inmateriell-dinghafter Form verobjektiviert haben – bis hin in die „Granulation, Farbe und Mattheit“. Die Dinge werden vom Menschen gesehen und begriffen als, so schreibt Hegel, „ein Anderes, das doch für ihn sein soll und worin er sich selbst, Gedanken, Vernunft, widerzufinden strebt“. Dinge sind dem Menschen vertraut und fremd zugleich. Vertraut durch ihren Gebrauch und den Umgang mit ihnen, fremd deshalb, weil sie dem Menschen objectus, gegenständig (=entgegengesetzt) sind und in dieser Eigenart staunende Verwunderung, Neugierde und ein Wissenwollen stimulieren.
In Dingen, die im Gegensatz zu anderen Zeichen (wie etwa Gedanken oder Gesten) durch Konkretheit und Dauerhaftigkeit ausgezeichnet sind, ist Menschliches eingeschlossen. Nimmt man Erkenntnisse der Umweltpsychologie zur Hilfe, dann kann man die Behauptung aufstellen, dass Dinge, dass Artefakte in zweifacher Weise auf Menschliches bezogen sind. Zum einen können sie durch psychische Anstrengung eines Interpreten gedeutet werden (fremdschulisches Verstehen), zum anderen verdanken Objekte ihre Erscheinungsform den investierten psychischen Energien (dies im Unterschied zu den naturgegebenen Dingen). Die von Menschenhand geschaffenen Objekte, die Artefakte, spielen wegen dieser Doppelrelation zu Bewusstseinsprozessen eine herausragende Rolle auch bei Geschichtsbildungsprozessen.
Hannah Arendt hat in ihrem Essay „Vita activa“ sogar die These aufgestellt, dass Erinnerungen überhaupt nur durch die „Handgreiflichkeit des Dinghaften“ möglich sind. „Ohne Erinnerung und die Verdinglichung, die aus der Erinnerung selbst entspringt, weil die Erinnerung der Verdinglichung für ihr eigenes Erinnern bedarf“, so Hannah Arendt, „würde das lebendig Gehandelte, das gesprochene Wort, der gedachte Gedanken spurlos verschwinden …..“.(18)
Man kann darüber streiten, ob Erinnerung und Dinghaftigkeit in der Tat in dieser Weise strukturell verkoppelt sind, unbestritten ist jedoch, dass Dinge eine Erinnerungskraft besitzen. Zumindest wird man der Erinnerungsveranlassungsleistung von Dingen einen hohen Rang zumessen müssen. Den Dingen sind „mnemotechnische Energien“, so ein Begriff von Aby Warburgs, eigen, und diese basieren auf deren Dauerhaftigkeit und Anschaulichkeit.
Die Materialität, die Dauerhaftigkeit und Anschaulichkeit sichert, ist überdies Bürge von Authentizität. Authentizität bezieht sich allerdings auf mehr als nur die Echtheit und Originalität der Dinge. Sie meint nämlich überdies eine besondere Form der Anmutungsqualität, die erregend, faszinierend und motivierend wirken kann. Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang an Walter Benjamins Begriff der Aura zu denken. Aura meinte bei ihm nie nur das Kunstwerk, wie manch spätere kunsthistorisch orientierte Ästhetik-Theorie uns das glauben machen wollte. Aura, so Benjamin, ist der für „geschichtliche Gegenstände vorgeschlagene Begriff“.
„Denn die Echtheit einer Sache „, so Benjamin an anderer Stelle, „ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft“.
Sinnliche Nähe und mentale Fremdheit – diese Kombination macht die authentisch-auratischen Objekte zu Dingen, die über ihren Dokumentationswert hinaus eben noch einen Reizwert, einen Sexappeal, besitzen, der sie für historische Erfahrungen in besonderer Weise eignet. Die berühmte Aura-Definition aus dem Passagenwerk hebt dies hervor:
„Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der Aura bemächtigt sie sich unser“. (19)
Was Benjamin für die Aura konstatiert hat, gilt auch – nur nicht in der überdehnten Form, wie durch die isolierte Lektüre des berühmten Kunstwerk-Aufsatzes verschuldet – für die Authentizität: ein „vergessen Menschliches“(20) wie es bei Benjamin heißt, vor sich zu haben, im Objekt mit der „verrosteten Seele“ konfrontiert zu sein. Der oft in der neueren Museumsdiskussion geäußerte Gedanke, dass gerade die Authentizität es ist, die die Karriere des Museums in der Gegenwart bewirkt, scheint vieles für sich zu haben. Die Zuwendung zu den Dingen lässt Authentizitätseffekte in einer Zeit zu, in der Erfahrungen aus zweiter Hand, vermittelte Abbild- und Deutungseindrücke die Regel geworden sind. Die Dingbilder und das sie aufbewahrende und ausstellende Museum hingegen leben von der Konträrfaszination des Authentischen: vom historisch Fremden, das uns räumlich nah ist.
Von Claude Lévi-Strauss stammt der Hinweis, dass unsere Gesellschaften durch das „negative Merkmal“ des Fehlens von Authentizität gekennzeichnet sind; Kompensationen für diesen Mangel bietet möglicherweise das Museum mit seinen Authentizitätsangeboten, die aus der Spannung von Nähe und Fremdheit ihre Wirkung beziehen. Denn das Museum ist der Ort, wo aufgrund der materialen und medialen Eigenarten der Museumsdinge Authentizitätserfahrungen möglich sind. In einem System, Lévi-Strauss sei noch einmal zitiert, „auf dem das Siegel des Nichtauthentischen liegt“, genießt solch ein Ort möglicherweise besondere Wertschätzung.(21) Der Wunsch nach Authentizität steht Lévi-Strauss zufolge auch hinter dem wachsenden Interesse an der Anthropologie und Ethnologie, eine Überlegung, die Peter Sloterdijk in seine eingangs schon erwähnte Museumstheorie, die das Museum als xenologische Institution verstehen will, hat einfließen lassen.
„Von realer Gegenwart“ heißt der Titel eines kürzlich erschienen Buches des Literaturwissenschaftlers George Steiner.(22) Auch dieses Buch ist Indiz für unsere unsicher werdende Einschätzung der Wirklichkeit, in der wir leben. Es handelt von der „unbehausten Instabilität und Entfremdung der conditio humana in der Gegenwart“. Solch eine soziale und mentale Befindlichkeit klammert sich mit Verbissenheit an dieRealpräsenz, wie sie die Objekte zu gewähren vorgeben. Im „Dickicht der Vermittlungen, Moderationen und Interpretationen“, so eine Formulierung des deutschen Steiner-Herausgebers und Kommentators Botho Strauß, ist das Verlangen nach „Wiederbegegnung mit dem Primären“, nach dem Prinzip Authentizität nur folgerichtig. Der Wunsch nach dem Handgreiflich-Materiellen erscheint plausibel in einer Zeit, die durch eine umfassende Mentalität des Sekundären, der Surrogate gekennzeichnet ist, und „in der die Welt zu Tode geredet“ wird. Man mag in Steiners Analyse eine Mischung aus angelsächsischem Skeptizismus und snobistischer Artifizialität, die zudem gesteigert ist durch den dem deutschen Kulturpessimismus verpflichteten Kommentar Botho Strauß‘, sehen, aber dennoch wird in ihr die Stimmungslage, die in der vermehrten Objekt-Zuwendung ihren Ausdruck sucht, nicht ganz falsch geschildert sein.
Die Welt des Sekundären scheint also das Authentische zu suchen. Der Überrest, das dingliche Relikt, ist einer der Garanten des Authentischen. Auch in anderen Zusammenhängen gilt die Authentizität als Wert – etwa in der New-Age-Bewegung oder in diversen Spielarten esoterischer Freizeitrituale. Die Ding-Authentizität, die sich im historischen Gegenstand zur Geltung bringt, ist freilich deshalb besonders wirksam, weil der Vertrautheitsschwund, der im Wandel unserer Lebenswelt angelegt ist, gerade und in erster Linie nach Dauerhaftigkeit im Sinne von Habhaftigkeit strebt. Wenn es stimmt, daß unser Lebensalter immer länger, das der Alltagsdinge immer kürzer wird, dann scheint die Sakralisierung des Mülls, die Hochschätzung des Lumpensammelns als Chiffre unserer Zeit verständlich und keineswegs abwegig.
Wer mit den Begriffen Authentizität, Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit jongliert, der kann freilich nicht vorsichtig genug sein. Wer dieWahrnehmung von Objekten als „Wahr“-Nehmung ansieht und der Evidenz, der Vorstellung „alles zeigt sich eh von selbst“ das Wort redet, gerät schnell auf erkenntnistheoretische Abwege. Der visuelle Bereich birgt Probleme in sich, weil er die Fundamentalität eines direkten Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorganges suggeriert. Das verführt zur trügerischen Illusion der Selbstevidenz und der Partikularität von Erkenntnis, die – fixiert auf den Gegenstand – auf Deutung, Erklärung und Redimensionierung der Überreste verzichten zu können meint. Aber mir ist klar, dass solch eine Warnung hier im Werkbund-Archiv nicht in allzu hoher Tonlage vorgebracht werden muss, denn gerade aus seiner Arbeit kann man lernen, wie das Ping der Empirie und das Pong der Theorie in ein stimmiges, zügiges und die Sinne befriedigendes Wechselspiel gebracht werden.
III.
So gut, so schön: Unser museologisches Verhältnis zu den Dingen ist problemlos, wenn es sich auf vergangene Dinge, auf Dinge als Zeugen gelebten Lebens bezieht. In Bezug auf die Gegenwart hat Vilém Flusser freilich vor kurzem, knapp vor seinem Tod, das Problem der schwindenden Real-Präsenz vor Augen, vor einer allzu großen Ding-Illusion gewarnt, indem er auf den grundlegenden Vorgang der Entmaterialisierung à la Lyotard und der „Entdinglichung des Sozialen“, wie sie von Bernhard Giesen beschrieben worden ist, (23) aufmerksam gemacht hat.
„Die Umwelt“, so Flusser, „wird immer weicher, nebelhafter, gespenstischer und wer sich in ihr orientieren will, muss von diesem ihrem spektralen Charakter ausgehen“.
Und weiter: „Unser existenzielles Interesse verschiebt sich zusehends von den Dingen zu den Informationen… Die bürgerliche Dingmoral, Erzeugung, Speicherung und Verbrauch von Dingen, weicht einer neuen. Das Leben ineiner undinglich werdenden Umwelt gewinnt eine neue Färbung…“.(24)
Die Dynamik unserer Zeitverhältnisse zwingt uns, die Zukunftsperspektive ins Auge zu fassen, zumal die Linien, die hin zu einer „neuen“ Anthropologie des Dings führen, unübersehbar sind. Es wäre erstaunlich, wenn das Werkbund-Archiv nicht auch darüber schon nachgedacht hätte – in Textform und in Bildform. So liest man bei Eckhard Siepmann, dass eine Praxis kulturgeschichtlicher Museen, die für diese Verschiebungen keine Seismographen hätte, und ihr Geschäft als „business as usual“ betriebe ihre „Schätze umso erbarmungsloser der Fetischisierung auslieferte“, auch wenn sie womöglich eine Bestätigung und Genugtuung darin fände, dass die Besucherzahlen in den „Horten des vermeintlich Authentischen im gleichen Maße wachsen, wie dieses aus der Welt verschwindet.“ (25)
Eckhard Siepmann, der, wie ich bei Katharina Rutschky lese, nicht nur ein Aquarium, sondern die Wände voller Bücher hat,(26) hat natürlich darauf eine Antwort parat – und zwar eine, die durchaus schon im kunsthistorischen Diskurs erörtert worden ist, aber von ihm schon in die praktische Dimension, heißt: in eine Ausstellung, umgesetzt worden ist. Warum nicht das Prinzip Alchimie, das Prinzip der wilden Kombinatorik nutzen, um aus den musealen Sammlungs- und Schaustücken Lehrmaterial für eine virtuelle Bilderfindungs-Kompetenz zu machen? Das ist Siepmanns Frage. Dinge und Bilder sind die Bausteine der Erlernung von Wahrnehmungsfähigkeit, sind die Voraussetzungen für eine visuelle Kompetenz, die die Basis auch der Virtualität, der Digitalität und der Simulationsstrategien ist (wie der Raumwahrnehmung, der perspektivischen und der dreidimensionalen Orientierung überhaupt). Aquarium: Ständiger Bildwechsel bei gleichbleibendem Bestand, Bücherwand: Ideenlieferant für die intellektuell-alchimistische Kombinatorik. So war es im „Zerfall des alten Raumes“ zu besichtigen: wie die Perspektive am Fenstergitter und an der Raumplattierung eingeübt werden kann, so kann am Dingarrangement das kombinatorische Prinzip der Konstruktion „neuer“ Umgebungen, wechselnder Aggregatzustände erlernt werden. Die Museen, so liest man in dem schönen Begleitbuch zum „Raumzerfall“, die Museen, die auf der Höhe der Zeit operieren, werden die ästhetischen Felder und Strukturen so produzieren lernen, daß sie auf die neuen Wahrnehmungsbedürfnisse einzuwirken vermögen.(27) So wie in der „äußersten Konkretheit“ der „Einbahnstraße“ die Grundstrukturen und Grundprozesse der Allegorie-Tätigkeit aufgewiesen werden können (das Trauerspielbuch und die Einbahnstraße entstehen im gleichen zeitlichen Zusammenhang),(28) so ist auch an der „äußersten Konkretheit“ der Alltagsdinge das knowhow zum Dechiffrieren der systèmes immatériaux et virtuelles zu erlernen. Und genau das ist ein Gedanke, den Horst Bredekamp an das Ende seines Kunstkammerbuches gesetzt hat, eines Buches, in dem er die Bild- und Dingschätze der Schatzkammern und Museen als Lernungsmittel für unsere in Digitalisierung begriffene Welt empfiehlt.
„… angesichts dessen, dass sich die Grenzen von Kunst, Technik und Wissenschaft auf ähnliche Weise zu öffnen beginnen, wie dies die Kunstkammer vorgeführt hatte, erhält ihre Schulung visueller Assoziations- und Denkvorgänge, die den Sprachsystem vorauslaufen, eine Bedeutung, die den ursprünglichen Stellenwert wohl möglich noch übertrifft. Die Welt der digitalisierten Bilder ist ohne Kenntnis der Kunstgeschichte nicht im Ansatz zu begreifen“. (29)
So erweist sich möglicherweise die Kombinations- und Experimentierlust der Alchimie des Alltags als Paradigma für die Souveränität des eigenen Blicks auf und des eigenen Urteils über das digitalisierte und virtuelle Weltverständnisses.
So wäre das Werkbund-Archiv nicht nur in die Jahre, sondern an historisch wichtiger Stelle auch auf eine gute Idee gekommen, die es inden nächsten Jahren herausfordern wird.
Dazu: Glückwunsch, Kompliment und Erfolg!