Wollen wir erkennen, worin der gute Geschmack besteht, müssen wir zuerst den schlechten Geschmack beseitigen.
Gustav E. Pazaurek, 1912
1909 eröffnete Gustav Pazaurek im Stuttgarter Landesgewerbemuseum seine „Abteilung der Geschmacksverirrungen“, eine im Sinne des Deutschen Werkbunds aufgebaute Schausammlung zur Erziehung zum „guten Geschmack“. In dieser Sammlung mit ausnahmslos abschreckenden Beispielen kunsthandwerklicher Erzeugnisse konzentrierte sich Pazaurek darauf, den „schlechten Geschmack“ am Gegenstand selbst zu entlarven. Dafür entwickelte er eine komplexe Systematik zur Einordnung von Fehlern aller Art, die er in Hauptkategorien zusammenfasste und zu einem weit verzweigten Subsystem zahlloser Vergehen ausdifferenzierte. Für seinen Fehlerkatalog bediente er sich einer drastischen Nomenklatur, die heute zu Recht befremdet. Die strafrechtlichen Kategorien, mit denen Pazaurek die Dinge etikettierte, lesen sich wie eine Metaphorik des Bösen: „Tücke des Objekts“, „Selbstherrlichkeit des Ornaments“, „Schmuckverschwendung“, „Zweckkollision“, „Materialübergriffe“, „Materialvergewaltigungen“, „Materialtäuschungen“, „Dekorbrutalitäten“ oder „funktionelle Lügen“.
Die Bösartigkeit der Dinge bezieht sich dabei nicht auf Taten, die mit ihnen ausgeführt werden könnten, nicht auf ihren Zweck oder ihren Zeichencharakter, sondern auf das Böse bzw. Schlechte, das sich in ihrer Ausführung, Gestaltung und in ihrer Funktionsfähigkeit manifestiert. Entsprechend der Philosophie des Deutschen Werkbunds ging Pazaurek von einem starken Einfluss der Dinge auf den Menschen aus. Gekämpft wurde gegen die Prunksucht und den Dekorationsirrsinn der Gründerzeit, gegen eine als verlogen empfundene, oberflächliche Kultur. Seit dem frühen 20. Jahrhundert widmeten sich Architekten, Künstler, Gestalter, Autoren und Wissenschaftler der als ethischen Auftrag verstandenen Geschmackserziehung. Die „gute Form“ der Nachkriegszeit war sowohl ästhetisch als auch ethisch-moralisch gemeint.
Die Ausstellung versucht erstmals eine Rekonstruktion der »Abteilung der Geschmacksverirrungen« und zeigt über 50 Leihgaben aus der Originalsammlung des Landesmuseums Württemberg. Darüber hinaus nimmt sie Pazaureks Systematisierung als Ausgangspunkt, um aktuelle Gestaltungstendenzen zu untersuchen. Eine Auswahl zeitgenössischer Produkte – von der Massenware bis zum Designerstück – wird deshalb den historischen Objekten gegenübergestellt. Im Zeitalter des Stilpluralismus scheint es heute unmöglich, eindeutige Kriterien des „guten“ oder „schlechten“ Geschmacks auszumachen.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch erstens, dass Pazaureks Richtlinien unverändert auf zahllose zeitgenössische Gegenstände anwendbar sind, bei denen dabei gleichzeitig ein spielerischer und ironischer Umgang mit Gestaltung erkennbar wird und zweitens, dass moralische Kriterien im Zusammenhang mit einem neuen Konsumentenbewusstsein wieder in den Mittelpunkt rücken. Jedoch sind heutige „Verbrechen“ den Dingen nicht in erster Linie anzusehen, weil sie sich nicht in der Konstruktion, dem Material oder dem Dekor offenbaren, sondern im Kontext von sozialen, ökonomischen und ökologischen Faktoren liegen. Pazaureks Fehlerkatalog wird deswegen um neue Kategorien ergänzt, die nicht repräsentativ, sondern nur beispielhaft zu verstehen sind.
Kernstationen der Ausstellung
Prolog – Der Deutsche Werkbund: Geschmacksbildung und Lebensreform
Um Gustav Pazaurek in den Kontext seiner Zeit einzuordnen und verständlich zu machen, vor welchen Hintergrund er agierte, werden zu Beginn Ziele und Programmatik des Werkbunds an ausgewählten Strategien vorgestellt.
Zur Propagierung und Durchsetzung der ästhetisch und moralisch „guten Form“ entwickelte der Werkbund spezifische Geschmackserziehungsinstrumente, die beispielhaft vorgestellt werden: Publikationen, Ausstellungen, Vor- und Feindbildersammlungen, Warenbuch und Warenkunden, Wohnberatungsstellen sowie die so genannten Werkbundkisten.
Historische „Abteilung der Geschmacksverirrungen“
Gezeigt wird eine Rekonstruktion der „Folterkammer des Ungeschmacks“ mit historischen Originalobjekten aus der Pazaurek-Sammlung. Diese ist gemäß der Fehlersystematik nach den Hauptkategorien Materialfehlern, Konstruktionsfehlern, Dekorfehlern und Kitsch gegliedert und in ca. 50 Unterkategorien aufgefächert, wie z.B. „Materialvergewaltigungen“, „Dekorbrutalitäten“, „Konstruktionsattrappen“, „Funktionelle Lügen“, „Hurrakitsch“ usw.
Zeitgenössische „Abteilung der Geschmacksverirrungen“
Ist Pazaureks Fehlersystematik noch zeitgemäß? Zur Überprüfung dieser Frage und um aktuelle Tendenzen in der Gestaltung von Dingen zu untersuchen, wird der historische Fehlerkatalog auf die heutige Produktkultur angewandt. Eine Auswahl zeitgenössischer Produkte – von der Massenware bis zum Designerentwurf – steht hier den historischen Objekten gegenüber.
Wer bestimmt heute was „gut“ oder „böse“ ist?
Setzen wir heute andere Schwerpunkte in der Beurteilung von Geschmack und Produktqualität?
Um die Diskussion über aktuelle Wertmaßstäbe anzuregen, werden dem alten Ordnungssystem exemplarisch heutige Fehlerkategorien hinzugefügt, wie z.B. „Ressourcenverschwendung“, „Artenschutzverbrechen“, „Gewaltakzeptanz“, „Sexistische Gestaltung“, „Kadaver-Chic“.
Das Museum als Ort der Verhandlung – Bring Dein Ding
Im letzten Teil der Ausstellung werden die Besucher eingeladen im Spannungsfeld zwischen dem Spielerischen und dem Moralischen eigene „böse“ Dinge einzuordnen und die Enzyklopädie fortzuschreiben.
Bisherige Stationen der Ausstellung
- 2009/10 Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin
- 2011 Gewerbemuseum Winterthur, Schweiz
- 2013 Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
- 2014 Hofmobiliendepot, Wien, Österreich
Publikation
In unserer Publikationsreihe „Schaukasten“ ist ein Buch zur Ausstellung erschienen.
Für nähere Informationen wenden Sie sich bitte an Imke Volkers: volkers|at|museumderdinge.de