Die Zukunft begann gegen Ende des Jahrhunderts. Als wäre das Eis gebrochen, setzte in den 90er Jahren die Wende ein. Die Zeitschriftengründungen „Pan“ (1895) und „Jugend“ (1896) waren in Deutschland Ausdruck und öffentliche Foren des Neuen. 1897 folgten, im kleinen Rahmen noch, aber mit spektakulären Erfolg, die ersten öffentlichen Präsentationen kunstgewerblicher Erzeugnisse im Münchener Glaspalast und auf der III. Dresdner Kunstausstellung. 1898 war das Schlüsseljahr für die Durchsetzung und Etablierung des Jugendstils im Kunstgewerbe: die Ausstellungen wurden bereits wesentlich umfangreicher beschickt, die Zeitschriftengründungen „Deutsche Kunst und Dekoration“ und „Dekorative Kunst“ und „Ver Sacrum“ in Österreich folgten, es gründeten sich die „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“ und die „Vereinigten Werkstätten für Kunst und Handwerk“ in München, die beide nicht nur wichtige Produktionsstätten, sondern auch Organisationszentren der Stilbildung wurden, schließlich wurde der junge Otto Eckmann, einer der populärsten Vertreter des Jugendstils, als Lehrer an die Kunstgewerbeschule Berlin bestellt, was zur Popularisierung des Jugendstils entscheidend beitrug.
Der neue Stil hat also nicht lange im Verborgenen geblüht. Die tragischen Künstlerschicksale, die anderen Stilbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts begleitet haben, blieben hier aus: seine Schöpfer sind überaus rasch zu Ruhm, wirtschaftlichem Erfolg und in einflußreiche öffentliche Positionen gelangt.
Was das Phänomen jener Stilwende dennoch schwer greifbar macht, ist die Tatsache, daß sie an einem Kreuzungspunkt ganz verschiedener Entwicklungslinien entstand.
Der „neue Styl“
Die Kunstgewerbevereine, die zentralen Foren der Kunstgewerbebewegung im 19. Jahrhundert, spielten für die Stilwende um 1900 eine Rolle, wenn auch nicht die maßgebliche.
Was im Überblick über ihre programmatischen Äußerungen seit 1850 immer wieder ins Blickfeld gerät, ist die deutlich ausgesprochene Empfindung des Mangels, ja der Beschämung über das Fehlen eines neuen, der Eigenart der Zeit angemessenen Stils. Feststellungen, „daß die Industrie des 19. Jahrhunderts (…) wohl eine theilweise Geschicklichkeit in der Nachahmung von Kunstformen der Vergangenheit , aber sehr wenig schöpferische Kraft für eigene gezeigt hat“ (1), durchziehen wie ein roter Faden die einschlägigen Publikationen. Die historisierende Praxis erschien, allem Sinnen auf Abhilfe zum Trotz, wie ein Fatum, vor dem es kein Entrinnen gab. Was blieb, waren mehr oder weniger hoffnungsvolle Verweise auf eine unbestimmte Zukunft. Dennoch bereitete sich auch in diesem Umkreis mehr des Neuen vor, als das subjektive Empfinden der Zeitgenossen vermuten ließ.
In seinen 1851 in der Zeitschrift des neu gegründeten Münchener Kunstgewerbe-Vereins publizierten „Erinnerungen an den Krystallpalast in London“ erwähnte Ernst Förster im Anschluß an seine nach historisierenden Stilformen geordnete Besprechung kunstgewerblicher Produkte noch zwei Kategorien von Objekten, „die keiner bestimmten architektonischen Richtung folgen und doch die Aufmerksamkeit fesseln“. Gemeint waren zum einen die Nachahmungen reiner Naturformen, zum anderen Möbel „von ganz einfacher Anordnung und Zusammensetzung, kleine runde oder Klapp-Tischen, die man nicht anders als elegant nennen kann“. (2)
Ähnliches, meist mechanische Möbel und Geräte von ganz schmuckloser, unprätentiöser Gestalt waren auch in den späteren großen Ausstellungen vertreten und fanden durchaus positive Beachtung.
Die Protagonisten der Stilwende um 1900 haben sich später auf die Traditionslinie reiner Ingenieursleistungen berufen. Sigfried Giedion hat die mechanischen als die „konstituierenden Möbel“ des 19. Jahrhunderts bezeichnet und sah in diesen Erfindungen die eigentliche „schöpferische Kraft“ jener Zeit bewiesen.
In die zeitgenössischen Debatten um den „neuen Styl“ haben solche Formerfindungen merkwürdigerweise keinen Eingang gefunden. Besonders auffällig wird dieser Umstand in den Äußerungen zum Londoner Kristallpalast. Gottfried Semper, dessen Lebenswerk dem Problem des Stils „in den technischen und tektonischen Künsten“ gewidmet war, nannte ihn ein „glasbedecktes Vakuum“; er hat ihn als Architektur gar nicht wahrgenommen (3). Ernst Förster bescheinigte dem Bauwerk zwar „den bewunderungswürdigsten Verstand und die kühnste Berechnung“, aber auch, daß es „keinen monumentalen Charakter hat und von außen keine ästhetische Wirkung macht“. „An dem Londoner Industrie-Ausstellungsgebäude, welches von Eisen und Glas in einer Ausdehnung, und in einem Umfang, wie noch kein anderes Gebäude in diesen Materialien ausgeführt ist, zeigt sich keine eigentümliche Stylart, auch nicht die entfernteste Andeutung davon“, stellte August Voigt im selben Jahrgang fest (4) . Dennoch wußte auch er ihn als Zweckbau, als technische Leistung zu würdigen. In den scheinbaren Widersprüchlichkeiten dieser Urteile klingt die eine grundsätzliche Trennung zwischen den „schönen“ und den „mechanischen“ Künsten an, die in der Architektur längst vollzogen war und auch für das Kunstgewerbe geltend gemacht wurde. Ein mechanisches Möbel, ein wissenschaftliches Instrument, ein einfaches Fahrzeug mochte zwar die Bewunderung erregen, selbst das Auge mit angenehmen und geschmeidigen Formen erfreuen – Kategorien der Schönheit oder des Stils kamen für die Bewertung solcher Formen nicht in Betracht. Eine Formensprache, die völlig autonom aus den Bedingungen des Materials, der Produktion und der Zweckbestimmung entwickelt war, daß heißt, die nur auf das Objekt selbst zurückverwies und keine anderen Eigenschaften als die ihm immanenten bekannt gab, genügte den weitergefassten Begriffen von Schönheit nicht. Die „schöne Kunst“ verlangte eine andere Sprache. Sie verlangte eine Sinngebung, die über das Objekt hinauswies, seine Beziehung zur Welt bezeichnete. Ein solches Programm mußte scheitern, weil in der kapitalisierten Warenproduktion des 19. Jahrhunderts die eigentliche Beziehung einer Ware zur Welt ihre Verwandlung in Geld war.
In diesem Sinne interpretierte Semper voll Trauer, Wehmut und Ironie die Gebärden der Marmorstatuen im Londoner Kristallpalast – „sie buhlten in ihrer Erniedrigung so verführerisch nach einem Käufer!“ und er fuhr fort: „Doch fragt man bei den meisten nach ihrer eigentlichen Beziehung. Ein für den Markt bestimmtes Kunstwerk kann diese nicht haben, noch weit weniger als ein Industriegegenstand, weil bei diesem die künstlerische Beziehung doch wenigstens einen Halt in dem Gebrauche hat, der davon voraussetzlich gemacht werden soll, das andere aber ganz für sich allein dasteht und nur den Zweck des Gefallens und Anlockens der Käufer in stets unerfreulicher Weise verrät“.
Unausgesprochen ist in diesen Worten der Verdacht enthalten, daß „in dem Gebrauche, der davon voraussetzlich gemacht werden soll“, die einzige tragfähige Beziehung liegt, die künftig für eine künstlerische Behandlung bleibt.