Vermeide Kleinliches!
Mies kam 1926 nach Stuttgart. Er arbeitete damals in unserem Büro, das in Heslach (in der Böblinger Straße neben der Polizeiwache) , im Hintergebäude eines Lebensmittelladens lag. Im Erdgeschoß war noch ein Hühnerstall, oben arbeiteten wir.
Mein Bruder Heinz hatte Mies in Berlin kennengelernt. Er hatte in einem Artikel den von Mies entworfenen Verkehrsturm in der Friedrichstraße in Berlin kritisiert: Die Straße sei dafür zu eng. Mies kam zu ihm, um ihm seine Meinung zu sagen. Daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die Mies in unser Stuttgarter Büro führte.
Die Genehmigung zum Bau der Weißenhofsiedlung durch den Gemeinderat im Frühjahr 1926 war ziemlich aufregend. Es hing immer an irgendwelchen Sachen. Den Gemeinderat hatte man dann rumgekriegt. Da war ein Architekt Behr, Stadtbaurat und Fraktionsführer der SPD, ein ehrgeiziger Architekt. Er wollte groß bauen auf der Weißenhofsiedlung. Er hat es dann geschafft. Man hat ihm gesagt: „Bau Du Deinen Schönblick dahin, so groß und mächtig, wie Du willst“ Durch diese Konzession an die Politik war die Zustimmung der SPD-Fraktion gesichert. Er baute dann mehr Wohnungen, als die ganze Weißenhofsiedlung umfaßte. Doch der ganze Schönblick-Komplex ist gar nicht interessant.
Bei den Deutsch-Nationalen war H. Fink Fraktionsführer, der in seiner Buchdruckerei dann die drei Weißenhofbücher druckte. Dessen Fraktion stimmte auch zu.
Dann wurde vom Gemeinderat verlangt, daß mehrere Stuttgarter Architekten mitbeschäftigt werden; zunächst die „Stuttgarter Schule“ überhaupt – die sind dann ausgeschieden. Dann sollten noch zwei dabei sein. Ausgewählt wurden Döcker und Schneck (beides Werkbundmitglieder). Schieber und Schoch, die Erbauer des Hahn-&-Kolb-Hauses wären infrage gekommen, doch sie waren gerade in Amerika. Das Nicht-Hereinnehmen von Keuerleber in den Kreis der Weißenhofarchitekten war sicher nachteilig für die Atmosphäre insgesamt. Keuerleber war ehrgeizig und hätte sich bestimmt anpassen können; das hätte Mies sich zunutze machen sollen.
Willi Baumeister war damals eine wesentliche Stütze bei dem Unternehmen. Und auch Hans Hildebrandt, damals noch voll gesund.
Mies ging bei der Auswahl der Teilnehmer sehr sorgfältig vor. In erster Linie wurden Architekten aus dem „Ring“ beteiligt.
Kontakte bestanden zu gleichgesinnten Architekten im Ausland, die sich auch an der Zeitschrift „G“ beteiligt hatten, von der Mies nur 3 Nummern herausbringen konnte.
Die meisten dieser Architekten waren zwischen 35 und 45 Jahre alt, nur Peter Behrens und Hans Poelzig waren 1926 bereits 58 bzw. 57 Jahre alt.
Adolf Loos, damals 56jährig, an dessen Teilnahme zuerst gedacht war, konnte nicht mitmachen. (Er baute 1926-27 in Paris das Haus für Tristan Tzara). Auch Hugo Häring konnte nicht kommen. (Die Reihenhäuser der Siedlung Fischtalgrund in Berlin-Zehlendorf waren 1926-27 im Bau und das Haus Max Woythaler in Berlin kam 1927 zur Ausführung).
Alles mußte sehr schnell gehen, obwohl die Siedlung von Anfang an als Dauerwohnanlage geplant war. Doch es gab damals leistungsfähige Firmen mit einer Stamm-Mannschaft, die auch bei kurzer Bauzeit ihre Termine pünktlich hielten. Poelzig hatte z.B. für das „Capitol am Zoo“ in Berlin nach 4 Wochen Planung nur 3 Monate Bauzeit. Und noch 1936 wurde die Firma Epple aus Stuttgart nach Berlin gerufen, wenige Wochen vor Eröffnung der Olympiade das Olympische Dorf zu bauen.
Die Weißenhofsiedlung setzte seinerzeit Maßstäbe für die Mindestausstattung der Wohnung. Mies hatte darauf bestanden, daß jedes Haus zentral beheizt wurde und Bad und WC erhielt. Viele Ideen einer variablen Raumnutzung wurden vorgeführt. So hatte Mies in zwei Wohnungen die offene Grundrißform mit sehr schönen Sperrholzwandteilen erprobt, die vom Fußpunkt aus zwischen Boden und Decke eingespannt wurden. Das waren Vorarbeiten zum Barcelona-Pavillon.
Wir durften im Mies-Haus in ähnlicher Form eine Wohnung einrichten mit Wandplatten, die ringsum durch ein Holzprofil eingefaßt waren. Rading baute Faltwände im Wohn- und Eßbereich ein.
Die Ausstellung beschränkte sich nicht auf die Bauten, sie hieß „Die Wohnung“. Die Inneneinrichtungen aus einfachen, vom „Gschnas“, wie Josef Frank es nannte, befreiten Möbeln sollten der Bevölkerung zeigen, wie der moderne Mensch lebt. Neue Baumaterialien wurden an den Objekten und auf einem Ausstellungsgelände vorgeführt. Unter anderem ein Reihenhaus nach dem von Ernst May in Frankfurt am Main eingeführten Fertigbausystem.
Folgerichtig kamen drei Bücher zur Ausstellung heraus, alle im „Akademischen Verlag Dr. Fr. Wedekind & Co.“ in Stuttgart: „Bau und Wohnung“, mit den Beschreibungen der Architekten, „Innenräume“ zusammengestellt von Werner Gräff, dem Mies aufgrund der Zusammenarbeit an der Zeitschrift „G“ die Ausstellung „Propaganda“ übertragen hatte und „Wie Bauen?“ von meinem Bruder und mir mit einem Vorwort von Adolf Behne.
Im Bereich der Innenarchitektur wurde der Verzicht auf komplette Zimmereinrichtungen propagiert, – keine Herrenzimmereinrichtung, Eßzimmereinrichtung, Schlafzimmereinrichtung mehr, sondern nur noch Einzelmöbel, die jeder nach seinem Bedarf und Geschmack zusammenstellt.
Wir sahen unsere Aufgabe darin, durch solide gefertigte, den neuen Fabrikationsmethoden angepaßte Möbel auch dem einfachen Arbeiter ein Gebrauchsgerät zu schaffen, das allen Ansprüchen genügt – ihn von dem Ballast zu befreien, mit dem er sich durch das Schielen auf großbürgerliche Prestigeeinrichtungen immer wieder umgab.
Diese Anregungen zur Einrichtung wurden von der Intellektuellen-Schicht aufgegriffen. Doch diejenigen, denen wir helfen wollten, blieben beim bekannten Alten, zu sehr eingebunden in die hergebrachten Verhaltensmuster. Hier lag damals und liegt heute noch eine pädagogische Aufgabe, die schon in der Schule einsetzen müßte.
Ähnliches zeigte sich beim Bezug der Wohnungen nach der Ausstellung. (Die Baukosten der Experimentalbauten und die daraus errechneten Mieten lagen etwa 30% über dem ortsüblichen ohnehin recht hohen Niveau). Eine fast homogene Gruppe geistig sehr aufgeschlossener Bürger zog in die Siedlung, die erst dann auseinanderbröckelte, als der drohende Abriß durch die Nationalsozialisten und 1939 schließlich die Kündigung die Mieter auseinandertrieb.
Zitiert aus: Die Zwanziger Jahres des Deutschen Werkbunds
Reihe: Werkbund-Archiv, Nr. 10
Mies kam 1926 nach Stuttgart. Er arbeitete damals in unserem Büro, das in Heslach (in der Böblinger Straße neben der Polizeiwache) , im Hintergebäude eines Lebensmittelladens lag. Im Erdgeschoß war noch ein Hühnerstall, oben arbeiteten wir.
Mein Bruder Heinz hatte Mies in Berlin kennengelernt. Er hatte in einem Artikel den von Mies entworfenen Verkehrsturm in der Friedrichstraße in Berlin kritisiert: Die Straße sei dafür zu eng. Mies kam zu ihm, um ihm seine Meinung zu sagen. Daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die Mies in unser Stuttgarter Büro führte.
Die Genehmigung zum Bau der Weißenhofsiedlung durch den Gemeinderat im Frühjahr 1926 war ziemlich aufregend. Es hing immer an irgendwelchen Sachen. Den Gemeinderat hatte man dann rumgekriegt. Da war ein Architekt Behr, Stadtbaurat und Fraktionsführer der SPD, ein ehrgeiziger Architekt. Er wollte groß bauen auf der Weißenhofsiedlung. Er hat es dann geschafft. Man hat ihm gesagt: „Bau Du Deinen Schönblick dahin, so groß und mächtig, wie Du willst“ Durch diese Konzession an die Politik war die Zustimmung der SPD-Fraktion gesichert. Er baute dann mehr Wohnungen, als die ganze Weißenhofsiedlung umfaßte. Doch der ganze Schönblick-Komplex ist gar nicht interessant.
Bei den Deutsch-Nationalen war H. Fink Fraktionsführer, der in seiner Buchdruckerei dann die drei Weißenhofbücher druckte. Dessen Fraktion stimmte auch zu.
Dann wurde vom Gemeinderat verlangt, daß mehrere Stuttgarter Architekten mitbeschäftigt werden; zunächst die „Stuttgarter Schule“ überhaupt – die sind dann ausgeschieden. Dann sollten noch zwei dabei sein. Ausgewählt wurden Döcker und Schneck (beides Werkbundmitglieder). Schieber und Schoch, die Erbauer des Hahn-&-Kolb-Hauses wären infrage gekommen, doch sie waren gerade in Amerika. Das Nicht-Hereinnehmen von Keuerleber in den Kreis der Weißenhofarchitekten war sicher nachteilig für die Atmosphäre insgesamt. Keuerleber war ehrgeizig und hätte sich bestimmt anpassen können; das hätte Mies sich zunutze machen sollen.
Willi Baumeister war damals eine wesentliche Stütze bei dem Unternehmen. Und auch Hans Hildebrandt, damals noch voll gesund.
Mies ging bei der Auswahl der Teilnehmer sehr sorgfältig vor. In erster Linie wurden Architekten aus dem „Ring“ beteiligt.
Kontakte bestanden zu gleichgesinnten Architekten im Ausland, die sich auch an der Zeitschrift „G“ beteiligt hatten, von der Mies nur 3 Nummern herausbringen konnte.
Die meisten dieser Architekten waren zwischen 35 und 45 Jahre alt, nur Peter Behrens und Hans Poelzig waren 1926 bereits 58 bzw. 57 Jahre alt.
Adolf Loos, damals 56jährig, an dessen Teilnahme zuerst gedacht war, konnte nicht mitmachen. (Er baute 1926-27 in Paris das Haus für Tristan Tzara). Auch Hugo Häring konnte nicht kommen. (Die Reihenhäuser der Siedlung Fischtalgrund in Berlin-Zehlendorf waren 1926-27 im Bau und das Haus Max Woythaler in Berlin kam 1927 zur Ausführung).
Alles mußte sehr schnell gehen, obwohl die Siedlung von Anfang an als Dauerwohnanlage geplant war. Doch es gab damals leistungsfähige Firmen mit einer Stamm-Mannschaft, die auch bei kurzer Bauzeit ihre Termine pünktlich hielten. Poelzig hatte z.B. für das „Capitol am Zoo“ in Berlin nach 4 Wochen Planung nur 3 Monate Bauzeit. Und noch 1936 wurde die Firma Epple aus Stuttgart nach Berlin gerufen, wenige Wochen vor Eröffnung der Olympiade das Olympische Dorf zu bauen.
Die Weißenhofsiedlung setzte seinerzeit Maßstäbe für die Mindestausstattung der Wohnung. Mies hatte darauf bestanden, daß jedes Haus zentral beheizt wurde und Bad und WC erhielt. Viele Ideen einer variablen Raumnutzung wurden vorgeführt. So hatte Mies in zwei Wohnungen die offene Grundrißform mit sehr schönen Sperrholzwandteilen erprobt, die vom Fußpunkt aus zwischen Boden und Decke eingespannt wurden. Das waren Vorarbeiten zum Barcelona-Pavillon.
Wir durften im Mies-Haus in ähnlicher Form eine Wohnung einrichten mit Wandplatten, die ringsum durch ein Holzprofil eingefaßt waren. Rading baute Faltwände im Wohn- und Eßbereich ein.
Die Ausstellung beschränkte sich nicht auf die Bauten, sie hieß „Die Wohnung“. Die Inneneinrichtungen aus einfachen, vom „Gschnas“, wie Josef Frank es nannte, befreiten Möbeln sollten der Bevölkerung zeigen, wie der moderne Mensch lebt. Neue Baumaterialien wurden an den Objekten und auf einem Ausstellungsgelände vorgeführt. Unter anderem ein Reihenhaus nach dem von Ernst May in Frankfurt am Main eingeführten Fertigbausystem.
Folgerichtig kamen drei Bücher zur Ausstellung heraus, alle im „Akademischen Verlag Dr. Fr. Wedekind & Co.“ in Stuttgart: „Bau und Wohnung“, mit den Beschreibungen der Architekten, „Innenräume“ zusammengestellt von Werner Gräff, dem Mies aufgrund der Zusammenarbeit an der Zeitschrift „G“ die Ausstellung „Propaganda“ übertragen hatte und „Wie Bauen?“ von meinem Bruder und mir mit einem Vorwort von Adolf Behne.
Im Bereich der Innenarchitektur wurde der Verzicht auf komplette Zimmereinrichtungen propagiert, – keine Herrenzimmereinrichtung, Eßzimmereinrichtung, Schlafzimmereinrichtung mehr, sondern nur noch Einzelmöbel, die jeder nach seinem Bedarf und Geschmack zusammenstellt.
Wir sahen unsere Aufgabe darin, durch solide gefertigte, den neuen Fabrikationsmethoden angepaßte Möbel auch dem einfachen Arbeiter ein Gebrauchsgerät zu schaffen, das allen Ansprüchen genügt – ihn von dem Ballast zu befreien, mit dem er sich durch das Schielen auf großbürgerliche Prestigeeinrichtungen immer wieder umgab.
Diese Anregungen zur Einrichtung wurden von der Intellektuellen-Schicht aufgegriffen. Doch diejenigen, denen wir helfen wollten, blieben beim bekannten Alten, zu sehr eingebunden in die hergebrachten Verhaltensmuster. Hier lag damals und liegt heute noch eine pädagogische Aufgabe, die schon in der Schule einsetzen müßte.
Ähnliches zeigte sich beim Bezug der Wohnungen nach der Ausstellung. (Die Baukosten der Experimentalbauten und die daraus errechneten Mieten lagen etwa 30% über dem ortsüblichen ohnehin recht hohen Niveau). Eine fast homogene Gruppe geistig sehr aufgeschlossener Bürger zog in die Siedlung, die erst dann auseinanderbröckelte, als der drohende Abriß durch die Nationalsozialisten und 1939 schließlich die Kündigung die Mieter auseinandertrieb.
Zitiert aus: Die Zwanziger Jahres des Deutschen Werkbunds
Reihe: Werkbund-Archiv, Nr. 10
Im deutschen Kaiserreich angekommen war allen bürgerlichen Schichten der dingliche Bereich des Wohnens längst hoch und heilig geworden. Egal ob der „rote Plüsch“ kostbar oder schäbig ausfiel, unterschied sich das kleinbürgerliche Wohnen doch kaum von dem des Bürger- und Großbürgertums. Während das reiche Bürgertum sich handwerklich aufwendig hergestellte Luxusgegenstände leistete, hatte der Einsatz von Maschinen die Herstellung von Einrichtungsgegenständen in allen Stilarten ermöglicht und das zu Preisen, die noch für das Kleinbürgertum erschwinglich waren. Die große Surrogatindustrie schüttete massenhaft gleichartige, wenn auch nicht gleichwertige Artikel aus. Der Fortschrittsglaube war vielfach fatal.
Aus den Widersprüchen, Gegensätzen und sozialen Ungerechtigkeiten dieser Zeit entwickelte sich über die zweite Hälfte des Jahrhunderts ein literarischer, politischer und praktischer Diskurs quer durch die bürgerliche Gesellschaft Europas. Publizisten, Sozialreformer und Künstler wappneten sich mit reichlichen Bildungsangeboten gegen die Auswüchse der Maschinenzeit.
Die wohl klarste Erkenntnis dessen, was auf dem Gebiet der ästhetischen und ethischen Bildung Not tat, brachte im Jahr 1900 der Kulturpublizist Ferdinand Avenarius in „zehn Geboten“ für das deutsche Heim, als eine Art Wegweiser zum guten Geschmack, auf den Punkt:
1. Richte Dich zweckmäßig ein !
2. Zeige Dich in Deiner Wohnung wie Du bist !
3. Richte Dich getrost nach Deinen Geldmitteln ein !
4. Vermeide alle Imitationen !
5. Gib Deiner Wohnung Leben !
6. Du sollst nicht pimpeln !
7. Fürchte Dich nicht vor der Form !
8. Fürchte Dich nicht vor der Farbe !
9. Strebe nach Ruhe !
10. Führe auch freie Kunst in Dein Heim !“
Der deutsche Bürger sollte Geschmack lernen und sich seiner „Käuferpflichten“ bewusst werden, die als Merkmal von Moral und Anstand ebenso unerlässlich seien wie vergleichbar Hygiene und Umgangsformen. Dazu pflegte Avenarius in seiner 1887 gegründeten Halbmonatszeitschrift Der Kunstwart eine knappe, zur Orientierung über Grundansichten ausreichende, eingängige Sprache mit einer plausiblen, ideologisch vereinfachten Wertung. Als er 1902 den Dürerbund gründete, anfänglich gedacht als Organisation der etwa 20 000 Kunstwart-Leser, zog dieser bis 1912 über 300 000 gleichgesinnte Mitglieder aus dem bürgerlich gebildeten Mittelstand an. Theodor Heuss beschreibt in seinen Erinnerungen an das Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg die „geistige Macht“ dieser Gemeinschaft und die seines Gründers: „Er [Avenarius] war wohl nach der Jahrhundertwende neben Lichtwark die größte Figur einer bewußten, auf das Sinnenhafte, das bei den Deutschen so fragwürdig geworden war, gerichteten Volkspädagogik. Man sah es in jener Zeit an den Pfarr- und Lehrerwohnungen, den Einrichtungen von Postsekretären und Amtsrichtern, am Wandschmuck, an der Möbelauswahl, vor den Bücherregalen, ob hier ein Bezieher des `Kunstwart´ hause. Das hat es vergleichbar vorher und nachher in Deutschland nicht mehr gegeben.“
Zweifellos bildete die Gründung der „Gemeinnützigen Vertriebsstelle für deutsche Qualitätsarbeit“ in Dresden-Hellerau den Höhepunkt der Bemühungen um Hausgerät im Sinne der Kunstwartbewegung. Sie übernahm ein Aufgabenfeld der seit 1904 bestehenden „Auskunftei“ des Dürerbundes, deren unentgeltlicher Informationsdienst neben Ratschlägen zur Hausratbeschaffung und dem Nachweis von Bezugsquellen „[…] sich auf alle erdenklichen Gegenstände erstreckte: Lebensführung, Denkmalpflege, Wohnungsfrage, Erziehung, Heimatschutz, Naturschutz, literarische und musikalische Auskünfte, […] Ratschläge von rein persönlichem bis zum allgemeinen öffentlichen Interesse […].“ Der tägliche Ansturm war bald beklagenswert und dann setzte Avenarius eine Initiative in Gang, die vor nahezu einhundert Jahren in Hellerau als „Vorhaben … in kleinem Kreis“ aufkam. Dort hatte Karl Schmidt 1906 für seine Deutschen Werkstätten den rechten Ort entdeckt und bald trafen hier neben vielen anderen Peter Behrens, Theodor Fischer, Hermann Muthesius, Bruno Paul, Hans Poelzig, Richard Riemerschmid und Friedrich Naumann zusammen. Von Anfang an unterstützte Avenarius das Gedeihen seines Unternehmens und das der in Gründung begriffenen Gartenstadt. Die offizielle Gründungsversammlung des Deutschen Werkbundes in München war nur noch eine Referenz hier gesetzter Impulse. So bescherte auch Naumann dem Werkbund mit seinen programmatischen Formulierungen den propagandistischen Rahmen, der dem Bund eine große und rasche Resonanz einbrachte. Der durch ihn formulierte Wunsch, einen „Baedecker“ für das gewerbliche Deutschland zu schaffen, sollte vorerst mit Avenarius‘ Ratgeber Gestalt gewinnen.
Unter dem Titel „Gediegenes Gerät fürs Haus“ propagierte dann der Dürerbund die elementare Formgebung durch industriell hergestellte, also gestanzte, gepresste oder gezogene „Aluminium- und Nickelwaren“ einerseits, und handgearbeitete „Kunstschmiedearbeiten“, „Hellerauer Schmuck“, „Festersontöpferei“, hochwertige, überfeine Stücke der Porzellanmanufakturen und der Möbel- und Spielzeugwerkstätten andererseits, als zeitgemäßes Ausdruckmittel.
„Gediegenheit“ war vorerst das zentrale Verkaufsargument. Seiner Wortbedeutung nach forderte es die Solidität der Verarbeitung, die Verwendung natürlicher, echter Stoffe im Gegensatz zu synthetischen und nicht zuletzt den verantwortungsvollen Umgang mit den eigenen Ressourcen. In den vorbildlichen Gebrauchsgeräten sollten sich vor allem bürgerlich-moralische Charaktereigenschaften des Echten, des Einfachen und Wahrhaftigen, des Volkstümlichen und Bodenständigen, des Wohlfeilen und Dauerhaften manifestieren. Das ging weit über eine ästhetische Geschmacksbildung hinaus und zielte auf volkspädagogische Erziehungsarbeit.
Grundsätzlich neu war dabei nur, dass die Vermittlung als konzertierte Aktion geführt wurde, denn über die Hellerauer Vertriebsstelle spannte sich ein dichtes Netz von Persönlichkeiten, die auf Staat und Gesellschaft einwirkenden Institutionen, Vereinen, Verbänden und Zeitungen angehörten. Ihre praktikablen Lösungsvorschläge vermittelten sie in Volkshochschulen, Mädchen-, Hauswirtschaftschulen, Haushaltsgenossenschaften und im vorgenannten Sinn orientierten Leserkreisen.
Die so gestaltete Modernität schien schlüssig, doch mangelte es an Überzeugungskraft. Den Übergang zu neuer Produktionsart legten nur die Waren des ständigen Gebrauchs nahe. In der Überzahl handelte es sich aber um feine, aufwendige, weil makellos gearbeitete Handarbeiten oder um von Kunsthandwerkern gefertigte, hochstehende Unikate beziehungsweise Kleinserien, die sich vor allem zur individuellen Distinktion eigneten. Dem erzgebirgischem Handwerker blieb allerdings sein selbst gefertigtes „Reformspielzeug“ unerschwinglich. Um die Gunst seiner Einkommensschicht warb das einfach geformte, weiße oder mit schablonierten Dekorbändern versehene Steingutgeschirr aus Velten-Vordamm, dass ihn 1912 nur allzu deutlich auf seinesgleichen zurückwies.
Das aus diesem Katalog, genau 3 Jahre später erwachsene „Deutsche Warenbuch“ der „Dürerbund-Werkbund-Genossenschaft“ machte dann den festen Willen deutlich, die „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk“ zu erwirken. Als sich der Deutsche Werkbund in seinem Gründungsjahr der Frage der Produzentenerziehung zuwandte, baute er auf dem Gedankengut der älteren Gruppe auf. Er teilte deren Überzeugung, dass die Kunstziehung eine auf allen Stufen der Produktentwicklung unerlässliche Vorbedingung sei, wenn eine „harmonische Kultur“ gelingen soll.
Weil der Enthusiasmus für das „echte“, für das „unverschüttete“, das „tiefere“ Leben, einem wunderlichen Gemisch zugleich aus sozialpolitischen, wirtschaftlichen und völkischen Äußerungen und leidenschaftlichen Utopien entsprang, wuchs im Werkbund „[…] von selber das Unternehmen immer mehr ins Grosse“, sogar zu einer „europäischen Sache“ heran. Diesmal hielten die Katechismen des als „Katalogprediger“ bekannten Dr. Josef Popp her: „Gestalten ist die Hauptsache, nicht verzieren!“ und „Die Rettung bringen allein erprobte Typen! Die sachlich gute und gefällige Ware muß Dauerware werden !“ Die Auswahl verantwortete dann ein kaum zu übertreffendes Gremium künstlerischer Berater, wie Ferdinand Avenarius, Peter Behrens, Margarete von Brauchitsch, Theodor Fischer, Otto Gußmann, Josef Hoffmann, Gertrud Kleinhempel, Hermann Muthesius, Adelbert Niemeyer, Bernhard Pankok, Bruno Paul, Hans Poelzig, Richard Riemerschmid und Alfred Roller. 1660 mobile Gebrauchsgegenstände kamen zusammen, mit denen sich die Herren und Damen „Kunstprofessoren“ als die besten Repräsentanten des spätwilhelminischen Deutschlands bewiesen. Sie erkannten sich nicht wieder in dem einstigen Bombast, dem historisierenden Plunder und auch nicht in dem narzisstisch gesinntem Edelgut. Unter ihnen bestand die Gewissheit nur mit international gültiger Ware industriell überleben zu können und dafür brauchte man nicht Künstler mit einer ausgeprägt individuellen Handschrift, sondern einen ganz anderen Entwerfertyp, schlicht den Gestalter, der über den Erfordernissen des Gegenstandes sich selbst vergessen konnte.
Typographie und Auswahl des Buches dokumentierten solche Erkenntnis. Fritz Hellmuth Ehmcke wählte für das lose gebundene Buch im standardisierten, quergelegtem Format den rein sachlichen Entwurf. Eine doppelte Linie umrahmt den in seiner Schwabacherschrift geführten Titel und das in der Mitte platzierte, durch Versalien gekennzeichnete, rot hinterlegte Warenzeichen. Nach dem einführenden Text nahmen 258 Seiten schwarz-weiße balkenhafte Fotografien auf, die nacheinander alle Objekte in immer gleichem Abstand, vor immer gleichem Hintergrund, fließbandartig vorführten. Die Artikel wurden fortlaufend nummeriert und zusätzlich durch einen Buchstaben, der sich auf das Material bezieht, anonym gekennzeichnet, denn die konsequente Auslassung von Hersteller- und Entwerfernamen sollte die Leser zwingen eine unvoreingenommene Beurteilung anzustrengen. In den fast nicht enden wollenden Gläsersätzen, vorwiegend weißen Porzellanservicen, einfachen Haushaltskeramiken und metallisch schimmerndem Kochgeräten wurde eine Präferenz für organische, klar proportionierte und konstruktiv-stereometrische Formen mit glatten Flächen und eine allen formalen Entscheidungen sichtbar zugrundeliegende Auseinandersetzung mit dem Material und der Funktion deutlich.
Vom „Individuellen zum Typischen“ zurückkehrend bedurfte es lapidar einer einheitlichen Ausdruckweise, der gleichmäßigen Signatur aller Teile des Warenangebotes. Die geschlossene Präsentation machte damit deutsche Produktion national und selbst in Feindesland höchst eingängig und beförderte so den formalen Durchbruch.
Das Unternehmen lockte die Vertreter der größten europäischen Einzelhandelsverbände für Glas, Keramik und Eisenwaren an. Ihre Mitglieder firmierten zu einer Einkaufsgenossenschaft und versicherten, das Sortiment unter der neuen Marke zu führen, es an erster Stelle anzubieten und eine Auswahl davon auch ständig auf Lager zu halten.
Selbst die englischen Spitzfindigkeiten bedeuteten nur größte moralische Genugtuung, erst recht im Krieg, als Gewerbe und Industrie vom Ausland abgeschnitten waren. Wenn der Kritiker des „Standard“ kommentiert: „Die Nachwelt werde ihre Werkbund-Möbel, ihr Werkbund-Porzellan und ihre Werkbund-Bücher gut verwahren und genau so damit prahlen, wie sie vor langer Zeit mit dem Besitz von Hepplewhite und Chippendale, Dresdener und Worcester-Waren und von alten Mönchen geschriebenen Büchern geprahlt hat“, ging angesichts dieser Wirkung im globalisierungsfeindlichen England „der Kampf um den Stil im Kunstgewerbe“ erfolgreich an.
Der hier betriebene, erstmals markengestützte Vertrieb einer Genossenschaft lieferte nicht zuletzt einen bedeutenden Beitrag zur Förderung von Betriebsumstrukturierungen im Sinne der qualitätsorientierten Unternehmenskultur. Die dem Warenbuch beigegebene Liste mit Verkaufspreisen, die auch allgemeine Lieferbedingungen enthielt, der Warenindex und die warenkundlichen Anmerkungen für den Laien, machten sogar aus diesem gefälligen Händlerverzeichnis noch einen wahren Käuferführer.
Damit ist das „Deutsche Warenbuch“ ein erstaunliches und immer noch bewundernswertes Zeugnis für die Schaffung einer Übereinkunft von in der Regel antagonistischen Interessen: der Markstrategie der Händler, der Käuferwünsche und der industriellen und manufakturellen Produktion.
Zeigten 1915 die beginnende Kriegswirtschaft und die Verknappung der Rohstoffe auch Grenzen auf, war seine Herausgabe doch nicht mehr aufzuhalten. Nur der Mangel an Papier führte schließlich dazu, dass die geplante Auflage von 100 000 auf vorerst 10 000 Exemplare beschränkt werden musste. Für anfänglich 2,50 Mark und später für 5 Mark konnte es noch bis 1927 von der Geschäftsstelle in Hellerau angefordert, auch im Buchhandel erworben oder in Bibliotheken und sogenannten Lesezimmern eingesehen werden.
Trugen Krieg und Inflation noch im Besonderen dazu bei, dem Prunkgehabe des Mittelstandes ein Ende zu setzten, stellten sich Mitte der zwanziger Jahren erste deutliche Signale eines veränderten Kaufverhaltens ein. Seit den dreißiger Jahren drängten sich dann Formen vor, deren Entwicklung rückblickend durch die Auswahl im Warenbuch vorbereitet wurde. Die Vereinigten Lausitzer Glaswerke, die Josephinenhütte, die Glashüttenwerke Peill & Sohn, auch Richard Süßmuths Werkstatt rangen um zeitlose Trinkgläser, wie sie das „Deutsche Warenbuch“ bereits ausgestellt hatte. Überzeugend behaupteten auch die Porzellanfabriken im Fichtelgebirge, insbesondere Hermann Gretsch‘ Entwürfe für Arzberg die wesentlichen Forderungen des Werkbundes in zwangloser Selbstverständlichkeit.
Der ästhetische Umbruch vollzog sich schrittweise, denn nur selten gelang es den für die Industrie arbeitenden Entwerfern, sich dem Anspruch des „Deutschen Warenbuches“ im besten Sinne des Verbrauchers zu stellen. Im Bereich Metall, wo sich das künstlerische Schaffen eng mit der Verfahrenstechnik verband, brachte es schon eher manchen Künstler dazu, auch in technischen Normen zu denken und der Ästhetik der bloßen Zweckform Fürsprache zu leisten.
Das „Deutsche Warenbuch“ hatte seinen Lesern Gestaltungen nahegebracht, die an Bewährtes anknüpften, produktionstechnische und ökonomische Bedingungen der Zeit ins Visier nahmen, für soziale Erfordernisse Argumente fanden und damit Kommendes beeindruckend vorbereiteten. Sowohl die visionären Beiträge der Künstler in ihrer gesellschaftsbezogenen Verantwortung, als auch die anonymen sogenannten Langzeitprodukte bedeuteten soziale Errungenschaften. Mit wachsender Käuferakzeptanz erfüllten sich die Forderungen der Kunstgewerbebewegung, die ein Jahrhundert zuerst als „gediegene“, später als „reine“, „organische“, „minimale“ oder „ewige“ Form ihre Interpreten fanden.