Die ersten konkreten Schritte zur Gründung des WB-Archivs fallen in die Jahre 1970/71. Die damaligen Universitätsassistenten Diethart Kerbs (der zugleich im Werkbund aktiv war) und Jonas Geist planten die Einrichtung einer Bibliothek zu den Lebensreformbewegungen der Jahrhundertwende. Beide hatten an der antiautoritären Bewegung in Berlin teilgenommen und arbeiteten mit dem damaligen Bibliothekar Janos Frecot an einem Buch über Fidus.
Der theoretische Ausgangspunkt des Werkbund-Archivs war die Lebensreformbewegung, die in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten mit der kulturrevolutionären Bewegung der späten 1960er Jahre aufweist; daneben auch die theoretische Hinwendung zum Alltag, zu einer Dimension der Kultur, die in den 50er Jahren unbeachtet geblieben war und auf die die Revolte den Blick gelenkt hatte. Auch hatte sich in den 60er Jahren in den großen Städten, als unbeholfener Ausdruck der Ablehnung der angebotenen modernen Massenkultur, eine Hinwendung zu den Alltagsgegenständen der Vergangenheit entwickelt: Das Trödeln wurde Mode, die Ausstaffierung der Wohnungen der Mittelstandsintelligenz mit Versatzstücken versunkener Lebensweisen. Entscheidend ist bei der Aufspürung der theoretischen Quellen des Archivs die Hinwendung zu den philosophischen Traditionslinien der Studentenbewegung: Auf der Grundlage der Schriften von Marx und Engels hatten sich in den 20er Jahren Schulen entwickelt, die, ausgehend vor allen von der Warenanalyse und der Ideologiekritik des Marxismus, eine Gesellschaftstheorie aus den Grundlagen des Alltagslebens zu entwickeln versuchten. Die wichtigsten „Ahnen“ sind dabei der ungarische Philosoph Georg Lukács, der in seinem 1923 erschienenen Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ den Zusammenhang zwischen der Verdinglichung des Bewußtseins auf der Basis der kapitalistischen Ökonomie und dem Aufbrechen der Verdinglichung durch die proletarische revolutionäre Aktion analysiert hatte, und die „Frankfurter Schule“, der u.a. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse angehörten. Ernst Bloch und Wilhelm Reich werden ebenfalls diesem theoretischen Zusammenhang zugeordnet; allen gemeinsam ist der Ansatz, in der Analyse des Alltagslebens die Ansatzpunkte für eine Kritik der Wirklichkeit, darin eingeschlossen der Kunst und anderer Kommunikationsweisen, zu finden.
Mit der Gründung eines „Werkbund-Archivs“ sollte es Studierenden ermöglicht werden, ein Institut für die Erforschung des Alltags im 20. Jahrhundert benutzen zu können, in dem die Impulse der Studentenbewegung theoretisch aufgegriffen und fortgesetzt wurden.
Für die Wissenschaft heißt das: Abkehr von der „wertfreien Wissenschaft“, Eroberung eines kritischen Bewußtseins von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Für die Kunst bedeutet es: Entthronung des Kunstwerks als der einsamen Inkarnation ästhetischer Vergegenwärtigung, Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche in den sinnlichen Bewußtwerdungsprozeß der Menschen. Beides zusammen macht die kritische Hinwendung zum Alltag zum Programm – die Geschichtsschreibung der kulturellen Alltagsprozesse, mit besonderer Aufmerksamkeit für ihre Brüche und Erneuerungsbewegungen, für die mehr oder minder lauten Kulturreformen und -revolutionen.
Der erste organisierte Versuch, die Alltagskultur des 20. Jahrhunderts umzuwälzen, ging von dem 1907 gegründeten Deutschen Werkbund aus, einer Vereinigung von Künstlern und Industriellen mit dem Ziel, die ästhetische Erscheinungsform der Waren von den Überkrustungen des 19.Jahrhunderts zu reinigen und ihr eine dem veränderten Lebensgefühl entsprechende Gestalt zu geben.
Das alte Archiv des Werkbunds war in den Feuersbrünsten der Mittvierziger Jahre untergegangen; das neue Archiv sollte diese Verluste ersetzen, gleichzeitig aber über die Dokumentation der unmittelbaren Werkbund-Arbeit hinaus die Geschichte der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts aufarbeiten, deren Reform die Arbeit des Werkbunds bis heute gilt. Um die kritische Qualität der Aufarbeitung der Werkbund-Geschichte zu gewährleisten, wurde das Werkbund-Archiv als ein selbständiger, unabhängiger, mit dem Werkbund kooperierender eingetragener Verein gegründet.
Alltag Kultur Alltagskultur
Die Entwicklung eines vernetzenden Museums ist eine logische Folge des Versuchs, Alltagskultur auszustellen. Anstelle von Definitionen wird im folgenden entwickelt, auf welchem Verständnis von Alltag und Kultur das Werkbund-Archiv basiert.
Die Konfusion bei der theoretischen Fassung von „Alltag“ rührt vor allem daher, daß Alltag nur auf ein Bezugssystem hin bestimmbar ist.
Die Negation des Alltags ist jeweils das „Lebensereignis“, das einmalige Ereignis. Für das Individuum sind Geburt, Krankheit, Hochzeit, Tod „Lebensereignisse“, kein Alltag.
Für die Gesellschaft ist das alles Alltag; für die Gesellschaft sind Krieg, Revolution, Katastrophen „Lebensereignisse“.
Für die Nationen, gar für die Welt ist dies alles Alltag; für den Planeten Erde sind die urzeitliche Trennung von Land und Wasser und der Weltuntergang „Lebensereignisse“; alles andere ist für den Globus:Alltag.
Für das Weltall gar ist die Explosion des Raumschiffchens Erde alltäglich, – alltäglicher geht’s gar nicht!
Es ist daher „streng genommen“ unsinnig, den Begriff Alltag in den Mund zu nehmen, wenn man nicht gleichzeitig die Ebene bezeichnet, auf die man sich bezieht. Alltag ist die ewige Wiederkehr des Gleichen im Verhältnis zu einer bestimmten Ebene der Reflexion, der Anschauung oder der Praxis.
Unbestimmt wie der Begriff Alltag ist auch der der Kultur – allerdings ist seine Geschichte länger und prägnanter. Sie ist bestimmt durch die feudalen Anfänge, in denen Kultur gleichbedeutend war mit Landwirtschaft und Urbarmachung. Sie schreitet fort zum Bürgertum, das die Unterscheidung von Kultur als Abgrenzungspotential gegen den „unkultivierten“ Adel benutzte. Der marxistische Kulturbegriff führte die Entstehung von Kultur auf die Arbeit zurück und hob die Trennung von Kultur und Arbeit ebenso auf wie die von künstlerischer Kultur und ästhetischer Praxis im weiteren Sinne. Die sozialdemokratische Variante des erweiterten Kulturbegriffs geht von der Forderung nach „Kultur für alle!“ aus und sieht in der Kultur vor allem ein Mittel der Identitätsfindung und der Konditionierung für neue gesellschaftliche, (post-)industrielle Aufgaben.
Die Dynamik, in der sich der Kulturbegriff entwickelt, führt zu einer Offenheit, die zu verwegener Selbstbeteiligung einlädt. Jeder definiert Kultur so, wie es ihm in den Kram passt, und das ist auch gut so, und da wollen wir keine Ausnahme machen. Wir steuern im folgenden keine Definition an, sondern beschränken uns darauf, einige Bestimmungen zu formulieren, die wir mit dem Begriff Kultur verbinden, um uns dann dem theoretischen Ungeheuer Alltagskultur zu nähern.
1. Wir verstehen unter Kultur nicht einen spezifischen Praxis- oder Gegenstandsbereich. Eine Menge Leute, die sich ausgeschlafen daran gemacht hatten zu bestimmen, was Kultur sei, sind bei ihrem Unternehmen gescheitert, weil sie Grenzen gesucht haben und später nicht sagen konnten, was denn jenseits dieser Grenzen liegen solle. Es ist kein Bereich menschlicher Tätigkeit auszumachen, der nichts mit Kultur zu tun hätte; auf diese Weise entsteht die Gleichung Kultur = Lebensweise, womit in der Tat (fast) nichts gesagt ist.
Eine erste Annäherung an den Begriff ergibt sich, wenn wir Kultur nicht als einen spezifischen Gegenstandsbereich definieren, sondern als einen Aspekt jeder menschlichen Tätigkeit – den es noch näher zu bestimmen gilt.
2. Die zweite wichtige Bestimmung ist die, daß bei den Formen der Vergegenständlichung dieses Aspekts unterschieden werden muß zwischen seiner Verwirklichung als Objekt (z.B. einer Sandburg) und seinerVerwirklichung als Praxisform (z.B. das Gespräch beim Bauen der Sandburg). Vergröbernd kann also von einer objektiven und einer subjektiven Kultur die Rede sein. Wichtig ist, daß nicht die Sandburg oder das Tongewebe des Gesprächs als Kultur anzusehen ist, sondern der Impuls, die Intention, die Kraft, die sie hervorgebracht haben.
3. Wenn es richtig ist, daß Kultur kein spezifischer Praxis- oder Gegenstandsbereich ist, sondern ein Aspekt jeder menschlichen Tätigkeit, gleichgültig, ob sie sich in Objekten oder in nicht-gegenständlichenFormen realisiert, so ist die Schwierigkeit dahin verlagert, diesen Aspekt näher zu bestimmen.
Jede menschliche Tätigkeit ist, unabhängig von dem äußeren Ziel, das sie sich setzt, ein Prozeß der Selbstvergewisserung, sei es die deseinzelnen oder eines Kollektivs, einer Gruppe oder einer Masse.Prozesse der Selbstvergewisserung können sich in einem Augenblickabspielen oder über Jahrhunderte hinziehen, in einem Boot oder auf einem Kontinent. Sie schließen viele Dimensionen in sich ein, zu deren wichtigsten die Identitätssuche und die Sinngebung gehören, samt ihrem schwierigen Verwandtschaftsverhältnis. Technizistisch gesprochen: Es ist der jeder nach außen gerichteten Tätigkeit innewohnende Akt der Rückkopplung, dessen Qualität die Kultur ausmacht. Da die Welt von Tag zu Tag eine andere ist und mit ihr jedes Individuum, ist die so verstandene Kultur eine Notwendigkeit des Überlebens: Versuch der Urbarmachung gegenüber nie versiegenden Quellen der Angst, der Leere, der Zerstörung und des Todes.
Die Prozesse der Selbstvergewisserung bilden Identitäten aus; die Stabilisatoren der Identität werden aber in jedem Augenblick vom Salz der Zeit angefressen; Identitätsbildung, d.h. Selbstvergewisserung, ist in jedem Augenblick notwendig; ihr Ausbleiben schillert in unterschiedlichen Krankheits- und Todesarten.
Trostvolle und zugleich trostloseste Bestätigung dieser Hypothese im Bereich der Alltagskultur ist der gerahmte Wandspruch: „Es wird alles wieder gut“, „Arbeiten, und nicht verzweifeln“, „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere“, „Wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“.
Grandiose Manifestation der Kultur und kollektiver Selbstvergewisserung gegenüber den Finsternissen des Daseins ist das Fest: Von den Revolutionen bis zu den Stadtteilfesten zieht sich eine utopische Linie, deren oft traurige, oft funkelnde Derivate die lebensgeschichtlichen Feiern sind.
Die hypothetische Bestimmung der Kultur als allgegenwärtiger Prozeß der Selbstvergewisserung schließt die Orgien, die gegen die Emanzipation des Menschen gerichtet werden, mit ein: Die Kultur ist eine „Arena“, in der beide Parteien anwesend sind. Noch immer gilt der alte Satz, daß der Gott des Fortschritts seinen Nektar aus den Schädeln Erschlagener trinkt.
Die Kunstgewerbebewegung und ihr Museum bieten die Möglichkeit, die Antwort des 19. Jahrhunderts auf das Problem des Verhältnisses von Kunst und Alltag zu studieren. Diese Lösung ist – in Deutschland -: dieschöne Ware.
Das jammervolle und irgendwie auch jämmerliche Bild, das die deutsche Kunstgewerbebewegung darbietet, hat seinen Ursprung letztlich in ihrem Unvermögen, hinter dem Unheil, das sie beklagt und zu bekämpfen versucht, die politische und ökonomische Dynamik zu sehen. Im Gegensatz zu ihrer englischen Schwester, die einem romantischen Anti-Kapitalismus huldigt und utopische Potentiale entwickelt, bleibt die Germanin auf dem Teppich und kommt über ihn auch in Träumen nicht hinaus. Ihr biederes Wächtertum hat sie traumlos gemacht inmitten der Spießerträume, die sie kritisiert. Ihre hellsten Köpfe vom militanten frühen Semper bis zum kapitalismuskritischen Sombart kommen über den Liberalismus nicht hinaus.
Der Deutsche Werkbund beschränkt sich nicht auf die Produktreform;er ist von vornherein politisch im Sinne eines „aufgeklärten Kapitalismus“, seine Reformbemühungen reichen „vom Sofakissen bis zum Städtebau“, „vom Sektglas bis zum Panzerkreuzer“, er will eine Alltagskultur, die die explosiven Potentiale der Entfremdung eindämmt. Sein Bemühen um die Integration von Kunst und Alltag findet seine Grenzen an dem Umstand, daß sich die Wahrheit der Kunst in ein verkehrtes Leben nicht integrieren läßt; daß die Kunst in ihm immer zur Inselhaftigkeit tendieren wird; daß die reale Lösung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft die Voraussetzung für eine Integration von Kunst und Alltag ist.
Kunst, Kultur und Alltag bilden daher auf absehbare Zeit immer ein Spannungsverhältnis. Die Tatsache der Nicht-Integrierbarkeit in die bestehende Gesellschaft bedeutet keineswegs, daß nicht auch hier und jetzt um weitestmögliche Integration gekämpft werden muß, die selbst ein Element der Veränderung sein kann.
Wenn das Werkbund-Archiv an dem Begriff Alltagskultur festhält, so deshalb, weil es ihn mit einem unkonventionellen Inhalt auszustatten sich anschickt. Für uns setzt dieser Begriff die Abkehr von dem parzellierten Bewußtsein voraus (wobei wir die Schwierigkeit nicht übersehen, daß das Alltagsbewußtsein das parzellierte Bewußtsein schlechthin ist und die Spalten der BILD-Zeitung wie des SPIEGEL dessen kongeniale Objektivation wie Matrix sind), die Hinwendung zum Begreifen der Welt als vernetztem System. Alltagskultur ist für uns kein deskriptiver, sonder ein prospektiver Begriff: ein Begriff, der Forderungen entwickelt.
Nach einer weit verbreiteten Vorstellung ist der Alltag der Ort des Konkreten, des Sinnfälligen, des Einfachen und Überschaubaren. Diese Vorstellung selbst ist ein großartiges Beispiel der Verkehrtheiten, ausdenen der Alltag zusammengesetzt erscheint. Die gesellschaftlichen Faktoren, die den Alltag bestimmen, sind außerordentlich kompliziert und werden mit jedem Tag komplexer. Was am Alltag als konkret erscheint, ist einzig das Falsche, in dessen Zeichen von der Komplexität abstrahiert wird. „Watt soll sein“, sagt die Berlinerin, im Ruhrgebiet sagt man: „Et is so watt“. Die Diskrepanz zwischen dem Alltagsverstand und der Wissenschaft ist ein alter Hut, aber mit der Digitalisierung der Welt nimmt sie eine neue Qualität an. Die Welt scheint immer leichter „lesbar“ zu werden, aber unter der Leichtigkeitbleibt die Verkehrtheit um so hartnäckiger verborgen. Kaum eine Institution unternimmt es, diese Diskrepanz abzubauen; es wird Wissen in Spezialbereichen angeboten, aber in einer Form, die den Gesamtzusammenhang eher verdeckt als freilegt. Wer nicht die Möglichkeit zu einem umfassenden Studium hat, bleibt bis an sein Lebensende eingesperrt in falsche Konkretionen.
Zweifellos ist die Parzellierung des Alltagsverstandes ein Politikum; es ist die Aufgabe der Intellektuellen – soweit sie noch nicht, wie in letzter Zeit häufig zu beobachten , auf den Kopf gefallen sind – und der demokratischen Institutionen, die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Alltagsverstand abbauen zu helfen.
Das Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts begreift Alltagskultur als die Weise, in der das Ensemble der Bedingungen, die das tägliche Leben strukturieren, in den Akten individueller und kollektiver Selbstvergewisserung reflektiert wird. Es widmet sich dabei vor allem den Umwälzungen und Brüchen in der Geschichte der Selbstvergewisserung.
Innerhalb der kulturellen Umwälzung der Gegenwart versteht sich das Werkbund-Archiv deshalb nicht als „Registrator“, sondern als operativer Faktor. Diese Umwälzung entwickelt sich aus einem historisch neuen, in Ansätzen schon in früheren Jahrzehnten vorbereiteten ökologischen Denken und Handeln, das aus den mechanistischen und partikularisierenden Prinzipien der Vergangenheit heraustritt und ein planetarisches Bewußtsein vorbereitet, in dem Wissenschaft und Spiritualität, die sich jahrhundertlang gegenüberstanden, einer Versöhnung zutreiben.
Text aus der Publikation „Alchimie des Alltags“, Werkbundarchiv 1987. Der Autor Eckhard Siepmann war von 1976 bis 1995 Leiter der Institution.