„Der Werkbund hat den Jugendstil auf dem Gewissen“, sagte mir ein Architekt, der die Zeit der Darmstädter Ausstellung von 1901 noch erlebt hatte (1). Der Werkbund hat den Jugendstil auf dem Gewissen… . Die Texte und Bilder, welche der Deutsche Werkbund gelegentlich der fünfundsiebzigsten Wiederkehr der Darmstädter Ausstellung zeigt, mögen die Beziehungen des Werkbundes zum Jugendstil illustrieren. Natürlich hat er zu der Ausstellung auf der Mathildenhöhe keine Stellungnahme abgeben können: Er wurde erst sechs Jahre später gegründet. Aber die Gründung des Werkbundes ist kein Anfang gewesen, sondern eine Bestätigung von Bestrebungen, welche bis weit hinter die Zeit von Darmstadt zurückgehen. Das wird deutlich aus dem Text von Julius Lessing von 1893:
„Das Konstruieren des Geräths aus der Zweckbestimmung heraus bezeichnet allerdings in manchen Fällen das Aufgeben der Kunstformen, in den meisten anderen jedoch bildet es neue gefällige Formen, welche dem Geiste unserer maschinenbauenden Zeit in hohem Maße entsprechen.“ (2)
Das ist bereits die Sprache des Werkbundes. Und im Jahre von Darmstadt, 1901, faßte Alexander Koch einen Werkbund ins Auge. Er sprach von einer „Zentrale des Kunstgewerbes“ und schrieb: „In ihr sollten sich die richtunggebenden Künstler zusammenfinden mit angesehenen Vertretern der Industrie, des Handwerks und der Literatur“. (3)
Er faßt im Jahre 1901 die Form ins Auge, in der der Werkbund dann Wirklichkeit wurde.
Auch hat der Mann, dessen Werk nach 1907 die Arbeit des Werkbundes wie das keines anderen Künstlers darstellt, Peter Behrens, sich an der Ausstellung in Darmstadt beteiligt. Und der, welchen man als den geistigen Vater des Werkbundes bezeichnet hat, Hermann Muthesius, hat 1902 eine Kritik des Jugendstils geliefert. Man kann also sagen, daß der Gedanke des Werkbundes zur Zeit der Ausstellung auf der Mathildenhöhe schon gedacht war, und daß führende Männer des Werkbundes sich eben damals mit dem Jugendstil auseinandergesetzt haben, und zwar jeder auf seine Weise.
Jeder auf seine Weise: Peter Behrens hat in Darmstadt auch in seinen Äußerungen den Jugendstil vertreten. Das Dokument, welches seinen damaligen Standpunkt wohl am reinsten ausdrückt, ist sein Büchlein „Feste des Lebens und der Kunst“ (Eugen Diedrichs, Leipzig 1900), dessen Bildschrift Behrens selbst gestaltet hat. Behrens schreibt darin: „Wir haben unsere Zeit erkannt, unsere neuen Kräfte, unsere neuen Bedürfnisse. Wir können ein Übriges leisten mit unseren Kräften und werden dann größere und höhere Bedürfnisse haben, und werden auch diese stark und schön befriedigen. Wir gehen einer – Unserer Kultur entgegen.“ (4)
Behrens entwirft in dieser Schrift ein Theater, ein Festspielhaus: „Am Saum eines Haines, auf dem Rücken eines Berges soll sich das festliche Haus erheben. So farbenleuchtend, als wolle es sagen: Meine Mauern bedürfen des Sonnenscheins nicht! – Seine Säulen sind umkränzt, und von sieben Masten wehen lange weiße Fahnen. Auf der hohen Empore stehen Tubenbläser in glühenden Gewändern und lassen ihre lang gezogenen Rufe weit über das Land und die Wälder ertönen. Es öffnen sich langsam die großen Thorflügel, und man tritt hinein in den hohen Raum. Hier sind alle Farben tiefer gestimmt, wie zur Sammlung. Hatten wir unten in unserer gewohnten Umgebung alles so gestaltet, daß es Bezug auf unser tägliches Leben habe, auf die Logik unserer Gedanken, auf unser sinnliches Zweckbewußtsein, nun erfüllt uns hier oben der Eindruck eines höheren Zweckes, ein ins Sinnliche nur übersetzter Zweck, unser geistiges Bedürfnis, die Befriedigung unserer Übersinnlichkeit. (….) Wir sind geweiht und vorbereitet für die große Kunst der Weltanschauung! Und nun entrollt sich das Spiel des Lebens: Wir selber spielen es, das schöne Schauspiel unserer ernsten Freude!“ (5)
Hier spricht Peter Behrens, der Mann der AEG-Bogenlampen, der erste industrial designer! Man glaubt Fidus zu hören, oder einen aus dem George-Kreis. Auch diese Worte kommen in dem Manifest vor: „Wir haben die Unzulänglichkeiten des Lebens vergessen, daß vieles häßlich war durch unsere Schuld.“ (6)
Also Überhöhung des Lebens durch die Kunst und Trennung der Kunst vom Alltagsleben: „Hatten wir unten in unserer gewohnten Umgebung alles so gestaltet, daß es Bezug auf unser tägliches habe (…..) auf unser sinnliches Zweckbewußtsein….“ (7). Immerhin, wir hatten auch unten „gestaltet“. Es gibt also damals für Behrens offenbar eine niedere und eine höhere Kunst. Die Zeit wird kommen, bereits 1909, da Behrens die beiden Künste in der Turbinenfabrik miteinander versöhnt, oder, um es ein wenig genauer zu sagen, da er auch das Arbeitsleben in seiner härtesten Form der hohen Kunst unterwirft: Die Fabrik als Tempel, oder wie man damals sagte, als „Kathedrale der Arbeit“. Als Behrens die berühmten Bogenlampen creiert hatte, zeigte ein unbestechlicher Kritiker, Heinrich Pudor, daß diese gestalteten Gebrauchsgegenstände nicht so funktional waren, wie es allgemein hieß. Sie seien, behauptete er, reine Kunst: Hätte Behrens wirklich die Funktion zum Ausgangspunkt genommen, so hätten die Formen ganz andere sein müssen. Aber Pudor war selbst ein Mann der Bewegung, die man mit dem Namen Fidus bezeichnen könnte, ein Mann der esoterischen Lebensreform, der Nacktkultur, zum Beispiel; ein Deutschtümler zudem: er nannte sich Heinz Scham.
Nun ist aber Behrens´ Büchlein im reinen Jugendstil gestaltet. Eine Seite des Jugendstils also ist die Esoterik, das Konventikeltum, die Überhöhung des Lebens durch die Kunst, die Einführung des geweihten Kreises in die Feier der höheren Bedürfnisse. Der Jugendstil hat aber, so scheint es wenigstens, auch eine andere Seite:
Van de Velde, einer der Großmeister des Stils, sagte 1895: „Das Leben ist utilitaristisch, und das kann nur von denen verurteilt werden, die selbst zu nichts nütze sind.“ (8)
Und: „Die Industrie hat die Künste, die bisher nach den verschiedensten Richtungen auseinanderstrebten, einheitlichen Anforderungen und Gesetzen unterworfen und ihnen somit eine gemeinsame Ästhetik gegeben.“ (9)
Und: „Die Industrie hat die Metallkonstruktion, ja sogar den Maschinenbau in den Bereich der Kunst gezogen. Sie hat kurzweg den Ingenieur zum Künstler erhoben und das ganze Gebiet der Kunst um all das bereichert, was die Bezeichnung `auf die Industrie angewandte Künste´ mit Stolz umschließt. (…) Man wird wohl in Kürze schon von `Künsten der Industrie und der Konstruktion´ reden, und diese Benennung schließt die Architektur ein.“ (10)
Und: „Der vollkommen nützliche Gegenstand, der nach dem Prinzip einer rationellen und folgerichtigen Konstruktion geschaffen wurde, erfült die erste Bedingung der Schönheit, erfüllt eine unentbehrliche Schönheit.“ (11)
Das ist die These des Funktionalismus. Aber van de Velde sagt in dem gleichen Aufsatz: „Und wenn also die vielen Äußerungen einer Malerei und einer Skulptur, die darauf hinzielen, ornamental zu sein, nicht bloße Täuschungen sind, – und sie können es nicht sein – , so ist diese Einigung nur eine Frage der Zeit, und wir werden sie über kurz oder lang anerkennen müssen unter dem Namen: `Industrie-, Konstruktions- und Ornamentationskünste´“(12).
Diese letzte Äußerung aber ist die entscheidende, denn sie setzt für van de Veldes eigene Praxis und für die Praxis des Jugendstils überhaupt die anderen Thesen außer Kraft. Verzweifelt bemüht sich van de Velde in dem Aufsatz „Ein Kapitel über Entwurf und Bau moderner Möbel“ (1897) den Nachweis zu führen, daß ein rein ornamental entworfener Kleiderständer funktional entworfen sei. Es gelingt ihm nicht. Er ist nicht funktional entworfen und noch weniger kann er in Massen produziert werden: Er ist ein rein handwerkliches Möbelstück. Aber van de Velde schreibt dazu: er wolle „bei Möbeln prinzipiell alles vermeiden, was nicht durch die Großindustrieverwirklicht werden könnte“. Daß er so arbeite, darauf sei er stolz: „Mein Ideal wäre einen tausendfache Vervielfältigung meiner Schöpfungen, allerdings unter strengster Überwachung.“ (13) (Hervorhebung vom Verfasser) Ja, die wäre allerdings nötig; auch das Wort „meiner Schöpfungen“ möge man ad notam nehmen.
Die Hinwendung zur Industrie, die Feststellung, daß die Industrie allen Künsten ihre Ästhetik gegeben habe (nicht einmal: geben werde), ist also nicht ganz ernst zu nehmen. Sie ist eine Verbeugung vor den Grundsätzen des Funktionalismus, welche damals durchaus nicht ganz neu waren. Ich erinnere an den Text von Julius Lessing von 1893, welchen wir am Anfang dieser Studie zitiert haben. Aber van de Velde wollte leidenschaftlich den neuen Stil, das neue Ornament, er meinte, daß dieses Ornament der Stil der Industrie sei, und daß der schöpferische Künstler imstande sei, diesen Stil zu entwickeln, da die Industrie von sich aus ihn offenbar nicht entwickeln könne. 1914, in seinen Leitsätzen zur Werkbunddiskussion, heißt es: „Und seit 20 Jahren suchen einige unter uns die Formen und die Verzierungen, die restlos unserer Epoche entsprechen.“ (14)
In diesen Leitsätzen ist denn auch, ganz folgerichtig, von den „Gaben der individuellen Handfertigkeit“ die Rede, welche der Werkbund nach Kräften pflegen solle, sowie von der „Freude und dem Glauben an die Schönheit einer möglichst differenzierten Ausführung“. (15) Die Industrie ist vergessen, das Handwerk wird in seine Rechte wieder eingesetzt.
Die Industrie wird 1914 vergessen, weil sie auch 1895 nicht eigentlich im Mittelpunkt der Gedanken van de Veldes gestanden hatte. Natürlich werfe ich ihm nicht Unehrlichkeit vor: Alles, was er je gesagt hat, wurde aus tiefster Überzeugung gesprochen. Nur handelt es sich hier wirklich um das, was der Marxismus ein falsches Bewußtsein nennt. Weder die Bedingungen der industriellen Produktion wurden erfaßt, noch der Bedarf der Massen. Unter dem Mantel des Funktionalismus ist van de Veldes Ideal – und seine Tätigkeit – nicht weniger esoterisch als die Gedanken, welche Behrens in seiner Schrift „Feste des Lebens und der Kunst“ ausgesprochen hat. Beiden ging es darum, das, was sie, Morris folgend, den Kommerzialismus nannten, durch die Schönheit zu überwinden. Und es war bei diesem Standpunkt nicht zu vermeiden, daß der Genuß der Schönheit, zunächst wenigstens, nur den happy few gewährt werden konnte (trotz der geforderten tausendfachen Wiederholungen „meiner Schöpfungen“).
Kam nun die Hinwendung zu Einfachheit unmittelbar nach Darmstadt einer richtigeren Einschätzung der industriellen wie der sozialen Bedingungen entgegen? Wir können diese Frage nur bedingt bejahen. Es ist wahr, daß man sich in den Jahren nach Darmstadt mit dem Entwurf von Möbeln für Arbeiter beschäftigt hat. Das tat Peter Behrens, das tat vor allem Karl Schmidt in Hellerau, das taten auch einige andere. Und ebenso ist es wahr, daß diese Möbel, anders als van de Veldes Kleiderständer, Typenmöbel waren. „Dresdener Maschinenmöbel“ nannte Hermann Muthesius die Möbel aus Hellerau. Aber diese Werkstätten hießen „Deutsche Werkstätten für Handwerkskunst“, welcher Name der Praxis, Maschinenmöbel herzustellen, widerspricht. Wahr ist ferner, daß einige sich mit dem Bau von Arbeiterhäusern beschäftigten, besonders Heinrich Tessenow und Bruno Taut. Beides also, die Besserung der Wohnverhältnisse der arbeitenden Klassen und das Entwerfen für die Massenproduktion begann, in der Arbeit der Werkbundkünstler eine Rolle zu spielen; aber es war eine untergeordnete Rolle. Selbst der Vorschlag, der Werkbund möge sich mit der Typisierung beschäftigen, welchen Muthesius in der Sitzung in Köln, im Juli 1914 machte, wurde von ihm im wesentlichen mit der Notwendigkeit des deutschen Qualitäts-Exportes begründet. Von der Arbeiterwohnung ist weder in seinen Leitsätzen die Rede, noch in seinem Vortrage.
Die Anhänger der Vereinfachung wollten eine bürgerliche Kultur schaffen, und sie wußten, daß eine bürgerliche Kultur von 1900 nicht außerhalb der industriellen Produktion entstehen konnte. Dies ist der entscheidende Punkt, in welchem sich der Werkbund von der englischen Arts and Crafts-Bewegung unterscheidet, auf der er aufbaut. Arts and Crafts – das ist William Morris und seine Anhänger – waren auf ihre Art inkonsequent. Sie wollten den Sozialismus, und sie nahmen an, daß der Sozialismus nur gegen die Industrie verwirklicht werden konnte. Das war ganz gewiß ein falsches Bewußtsein. Aber in sich selbst war diese Lehre konsistent. Der Werkbund, welcher fünfzig Jahre später auftrat als Morris, konnte die Industrie nicht mehr übersehen, welche inzwischen den Schritt vom Konkurrenz-Kapitalismus zum Monopolkapitalismus vollzogen hatte. Der Werkbund bejahte diese Entwicklung, und zwar bejahte er sie auf der Grundlage eines patriotischen Bewußtseins der sozialen Verantwortung des Bürgertums. Friedrich Naumann, den man den Chef-Ideologen des Werkbundes vor 1914 nennen kann, vertrat den Gedanken, daß die Produktion bereits vergesellschaftet sei: er sagte sogar, die Produktion der Großunternehmen sei bereits sozialistisch, sie müsse nun auch demokratisch werden; und das mit der Größe des Werkes wachsende Verantwortungsgefühl des Unternehmers werde, schon aus wohlverstandenem eigenem Interesse, diesen Prozeß der Demokratisierung in Gang setzen. Die Arbeiterschaft selbst werde dazu beitragen, da das große Unternehmen den großen Zusammenschluß der Arbeiter fördere. Dies war die Formel der am meisten fortschrittlichen Mitglieder des Werkbundes: Schaffen wir eine bürgerliche Kultur für das Zeitalter der Industrie; und sorgen wir dafür, daß die Arbeiterklasse ständig „gehoben“ werde, damit sie in immer stärkerem Maße an dieser bürgerlichen Kultur teilnehmen könne. Dies war in etwa auch der Standpunkt des Mannes, den man den geistigen Vater des Werkbundes genannt hat, Hermann Muthesius.
In diesem Concept aber hatte die Schöpfung eines neuen Stils durch den Künstler keinen Raum. Darum setzte sich Muthesius bereits 1902, also im Jahre nach Darmstadt, mit dem Jugendstil kritisch auseinander. Das geschah in dem Aufsatz mit dem bezeichnenden Namen „Stilarchitektur und Baukunst“, in welchem auch die Rolle der Maschine als der Hervorbringerin typischer Kunstprodukte recht genau definiert wurde.
„Die Architektur hat“, schrieb er, „wie jedes andere Kunstwerk, ihre Wesenheit im Inhalt zu suchen, dem sich die äußere Erscheinung anzupassen hat, und man muß von ihr verlangen, daß diese äußere Form nur dazu diene, das innere Wesen wiederzuspiegeln, wobei die Art der Detailformen, `der architektonische Stil´, zunächst eine verschwindend geringe Rolle spielt, wenn sie nicht ganz gleichgültig ist.“ (16)
Das ist eine klare Absage an den „Ornamentierungskünstler“. Muthesius wird aber noch deutlicher und greift den Jugendstil selbst an. Er spricht davon, daß „die Forderung, neben den historischen Stilen einen neuen Stil, den Stil der Gegenwart zu erfinden, nur auf reine Äußerlichkeiten abziele“ (17): „Zu solchen Versuchen müssen auch diejenigen allerneusten Leistungen gezählt werden, die das Wesen eines modernen Stils darin suchen, daß sie (…) den Fensterumrahmungen statt der früheren geraden Umrißlinien solche von geschwungener Form geben. Diese Art modernen Stils (….) gehört durchaus noch in das Gebiet der im Formalismus befangenen Architekturmacherei, von der wir füglich genug haben sollten.“ (18)
Dabei ist Muthesius nicht ohne Verständnis für die Bestrebungen, welche er ablehnt: „Auch hier zwar arbeitet man auf Ausdrucksfähigkeit hin, vorzüglich, indem man eindringlicher, als es bisher geschah, gewisse statische Verhältnisse unter starker Zuziehung des menschlichen „Einfühlens“ zu verdeutlichen versucht. Der Stuhl erhält etwas breitbeinig Hockendes, das Tischbein eine elastische Linie wie der tragende menschliche Fuß; die Konstruktionsteile umklammern einander, ein metallener Ansatz klaut sich in den Holzgrund und streckt sich armartig heraus, ein messingener Handgriff deutet eine Bewegung, die mit ihm ausgeführt werden soll, schon durch diese Linie an.“ (19)
Nachdem er jedoch dieses wohlwollende Zugeständnis gemacht hat (das Wort „zwar“ leitet es ein), weist er darauf hin, daß in einem Zeitalter der Kommerzialisierung von jenen Ausdruckswerten nichts übrig bleiben könne, als das Formenrezept „geschwungene Linie“, und daß das, was man Jugendstil nennt, nichts anderes sei als die massenhafte und sinnlose Anwendung dieses Formrezeptes. Muthesius hatte durchaus Gefühl für die „starken Leistungen des Jugendstils“, so ist er in England völlig dem Bann Mackintoshs verfallen, dessen Werke er allerdings nicht Jugendstil nannte. Aber selbst ihm gegenüber betont er die Gefahr der Esoterik. Der heutige Mensch, sagt er, besonders in Arbeitskleidung, würde in solchen Räumen stören.
Nimmt man Muthesius´ Standpunkt als den reifen Standpunkt des Werkundes – und das darf man wohl – , so kann man sagen, der Werkbund habe den Jugendstil abgelehnt. Er hat ihn nicht auf dem Gewissen, denn der Jugendstil hätte auch ohne den Werkbund sehr bald seine Grenzen erreicht; aber er hat die Gründe formuliert, warum der Jugendstil mit dem Maschinenzeitalter und mit der bürgerlichen Kultur unvereinbar ist, warum er unwirklich war und in eine Sackgasse führen mußte. In dieser Sache waren sich um 1907 wohl alle im Werkbund einig, auch die Meister des Jugendstils, ein Riemerschmid, ein van de Velde. Daß gleichwohl die Künstler des Werkbundes zwischen dem Kunstgewerblichen und dem Wesentlichen nicht zu unterscheiden vermochten, zeigen die Deckenlampen, welche Peter Behrens etwa zur gleichen Zeit wie die AEG-Bogenlampen entworfen hat. Das Kunstgewerbliche bleib die ewige Gefahr des Werkbundes; und als Muthesius 1914 mit seinem Typisierungsvorschlag die Weichen der „Werkbundarbeit der Zukunft“ – dies der Titel seines Vortrages – in Richtung auf die Gestaltung des Industrieproduktes stellen wollte, begegnete er einer sehr heftigen Reaktion von Seiten der freien Kunst.
Und ist diese Auseinandersetzung nicht wieder aktuell geworden? Der Fortschritt liegt auch heute in der Richtung der Industrie. Will man ihre schädlichen Wirkungen bekämpfen, so muß man sich ihrer bemächtigen. Es ist noch zu bezweifeln, ob die friedliche Idee des Werkbundes noch gilt, daß es genüge, ihr ins Gewissen zu reden, so zwar, daß man ihr ihr eigenes Interesse klarer deute als sie selbst das könne. Die Flucht in die Kunst jedoch, zu der gegenwärtig wieder viele, auch im Werkbunde neigen, ist nun einmal eine Flucht. Sie wird der Fragestellung nicht gerecht. Es scheint mir gut, sich des Wortes von Muthesius zu erinnern, daß die äußere Form nur dazu dienen dürfe, das innere Wesen wiederzuspiegeln. Aber ich fürchte, daß eben diese Möglichkeit heute verstellt ist, und zwar durch – placet Muthesio – die Typisierung: Freilich hatte Muthesius sich die Typisierung anders vorgestellt. Er predigte in einer Zeit, in der es immerhin möglich schien, die Industriellen zu überreden, daß auch die gute Form, gerade die gute Form, sich bezahlt mache. Einiges davon ist auch verwirklicht worden: Niemand wird leugnen, daß Kameras, zum Beispiel, fast immer sehr gut geformt sind. Im Bauen freilich, wo die gute Form die Verwertung nicht verbessert, sieht es anders aus. Dieses Problem bestand vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht, da das Bauen, vom Ingenieurbau abgesehen, handwerklich betrieben wurde. Wir werden uns zu bemühen haben, die Elemente des Bauens „werkbundgerecht“ zu entwerfen, – falls die Bauindustrie bereit ist, uns dabei zu unterstützen.