Werkbundtagung in München 1928

Kurt Schwitters

Ich beginne von hinten.
Was heißt München? – Residenz? Künstlerstadt? Bolschewismus, wie einst im Mai? oder Weisswürschte?

Alles nicht allein, sondern Überfluß.

Man sagt, man könne die Kulturhöhe einer Nation an ihren sanitären Einrichtungen ablesen, zum Beispiel an ihren We Cees. Ich habe daher ein W.C. auf der Ausstellung „Heim und Technik“ gründlich studiert.

Er war ziemlich finster, aber doch alles Erforderliche da, was man gebraucht , aber sogar noch viel mehr, als man unbedingt nötig hat, und das war das Charakteristische. Ein sehr kleines Spiegelchen nämlich hing ziemlich hoch oben, in einer dunklen Ecke, weil nämlich alle Ecken dunkel waren. Eigentlich konnte man es gar nicht benutzen, das Spiegelchen. Dafür aber war darüber ein ungehobeltes und ungestrichenes Holzbrett als Bört angebracht, rund an den Seiten überdeckt mit handgestickten langen kostbaren Spitzen, welches einen echten Bayrischen Bierkrug trug, eine Mass, aber ohne Bier, sondern mit Blumen. So etwas ist charakteristisch für München, es ist alles da, was überflüssig ist, aber dieses überflüssige ist nett, man könnte sagen, ein bischen nett, angebracht.

Das nennt man Kunstgewerbe.

Es ist jedoch auch alles Notwendige da, aber dunkel und versteckt, und manchmal überdeckt von dem netten Überflüssigen. Denn der Münchener hat immer Geschmack, und ich bitte, mir nicht übel nehmen zu wollen, wenn ich hier feststelle, dass ihm dabei ein ganz klein wenig der Sinn für den großen Zug fehlt, der die Dinge zur Einheit bringen kann, und ein noch ganz klein bischen weniger das was unsere neue Zeit ausmacht, die Nase.

Z.B. der Hauptbahnhof in München besteht aus mehreren 100 verschiedenen kleinen Häuserln, malerisch und unbedingt ein bischen nett, ihm fehlt aber jene große Linie, welche eine Weltstadt ausmachen würde. Ebenso fehlte der große Zug auf der Ausstellung „Heim und Technik“, welche wieder genau wie der Hauptbahnhof aus mehreren 100 kleinen einzelnen Gebäuden bestand, auf der aber, wie man mir sagte, die Münchner Hausfrauen viel, ja sogar sehr viel lernen könnten und täten. Für ein Abonnement konnte man nicht weniger als 126496 einzelne Veranstaltungen mitmachen, und als Gast für seine 50 Pfennig Eintritt eine mustergültige Beschriftung sehen.

Man kann sich übrigens schwer vorstellen, dass sich ein Münchner in einer anderen Stadt wohl fühlen könnte, der würde sich allein schon an die Lichtreklame nie im Leben gewöhnen können.

Und jetzt komme ich nach vorn.
Was heißt Werkbund.

Ich habe viele Herren und Damen darum gefragt. Die meisten sagten mir: „Werkbund, das ist eben Werkbund, da kann man nicht viel machen, das kann man nicht weiter erklären.“ Andere sagten: „Werkbund ist Muthesius“. Aber das ist keine Definition. Wieder andere sagten, Werkbund hätte mit Form zu tun, und das ist wahr, denn sein Organ heißt Form. Niemand aber hat mir eine wirkliche Definition des Wortes Werkbund geben können, und scheinbar gibt es auch keine. Darum habe ich selbst gefragt, ob es vielleicht eine Umstellung wäre, nicht Werk, sondern das K nach vorn, also KWER. Aber da meinte der Herr, der Werkbund stände nicht quer sondern leider mit, und dann überhaupt wozu eigentlich quer? Da sagte ein Anderer: „Werkbund heißt tanzen“. Aber das ist eine Unterstellung, denn ich selbst habe mit eigenen Ohren hören können, dass Werkbund Diskussion heißt. Zu einer Diskussion gehört aber vorerst eine aufgeworfene Frage, das nennt man Referat. Das ganze aber vermehrt um Tanz und Wein nennt man Werkbundtagung.

Nun bin ich mitten drin.
Der Werkbund besteht aus einer großen Anzahl wichtiger Persönlichkeiten. Einige habe über wichtige Dinge ernst gesprochen. Ich erlaube mir hier als Beispiel einen kleinen Ausschnitt aus einem größeren Referat zu geben:

Das Referat:
„Die menschliche Seele, im Geschichtskörper eingebettet, ringt, wie ich sagte, und indem sie damit ringt, und wenn diese Substanz sich verwandelt hat, sich seine immer wieder für einen adäquaten Ausdruck das, was man Lebensgefühl nennt, allgemein zu finden. Daraus folgt das Resultat. Jede neue Lebensaggregation ist ein Aggregatzustand, der zu einer neuen Kontinuität aufruft. Ich bitte das nicht zu oberflächlich, oder zu einfach zu verstehen.

Um das ganz offen zu sagen, die Heimat des Menschen ist in die vierte Dimension gehoben worden. Sein Haus ist ein sicherlich gefühlsbetonter Aufenthaltsort geworden, in dem er sich aufhält. Das alles ist eigentlich so furchtbar klar, das man eigentlich gar nicht darüber zu reden brauchte.

Aber nun liegt noch mehr vor. Der Panscientallismus und der Pantapanhistorismus haben dem in der heutigen Zeit stehenden Menschen alle Objekte, Subjekte und Prädikate, Gegenstände, Zustände, Abstände, Über- und Unterstände, Verbindungen und Trennungen der Heimat relativiert. Das Verwachsensein mit den Dingen ist nicht mehr dasselbe, sie sind museal geworden, in einem bestimmten Sinne. Solche Sachen müssen glatt ausgesprochen werden. Täglich liest der Mensch in seinen Zeitschriften. Aber in diesem tiefen Raum wissen wir noch nicht Bescheid. Ich bitte das nicht zu oberflächlich oder zu einfach zu verstehen. Es ist eine Art von Clair-Obscur. Die positiven Leistungen sind Kunst- und kulturhistorisches Dokümang. Nur eines ist sicher, was in den seelischen Wölbungen uns früher mitgerissen hat, das will doch nicht mit demselben Pathos klingen. Solche Sachen müssen glatt ausgesprochen werden. Das ist der entscheidende Punkt.

Es will mir scheinen, als ob die neue Lebensaggregierung ein theologischer (1) Komplex in einem anderen Aggregatzustande ist. Und das alles zusammengenommen, was ich vorwegahnend ausgesprochen habe, ist es wohl klar, dass das Centrale mit den alten Symbolen der Gestaltung zu einer Kontinuität zusammenwächst. Anders ausgedrückt, der Mensch dieses neuen Lebensgefühls befindet sich allein mit der Natur. Ich weiß nun nicht, ob Sie eine weitere Gewagtheit akzeptieren, wenn ich sage, dieser Mensch steht in einem gewissen Sinne wie am ersten Tage, wie Adam. Der moderne Purismus ist nichts Anderes, als der Ausdruck für eine gewisse Blossheit. Und wie der heilige Franciscus seine Kleider auf dem Markte von Assisi auseinandergerissen und weggeworfen hat, so ist es das Suchen nach der Zweckmäßigkeit, das zu diesem Wegwerfen geführt hat. Dabei muss ich um das, was ich sagte, wirklich klar zu machen, erwähnen, dass das alles doch abgewandelte Holzarchitektur ist. Denn man muss sich klar machen, nicht Eisen und Glas bilden eine neue Tektonik, nicht das sind die entscheidende Dinge für den puristischen Stil, ja bitte lesen Sie doch das Buch von Bruno Taut, die Frau als Schöpferin, das ist das eng behagliche eingebettet sein in ein glückhaftes Gebilde, das ist das erbärmliche Behagen.

Nun die Konsequenzen, und damit bin ich am Schluss. Da dieser moderne Purismus aus dem Centrum moderner Existenz hervorbricht, so frage ich nur, ob das schon ein nach Fixierung strebender Ausdruck ist, der als gleichberechtigt sich neben frühere Stile daneben stellen kann. Ich habe das Gefühl, dass in diesem neuen Ausdruckswollen viel negativ….“

Jetzt muss ich ein schillersches Wort von Goethe citieren: „Tages Arbeit, abends Gäste, saure Worte, warme Feste“, denn die Stadt München hat ein lukullisches Mahl gegeben zu Ehren des Werkbundes, der in München vor nunmehr 301 Jahren gegründet wurde. So erklärten sich die riesigen Weintrauben, die als Schmuck von der Decke des Rathaussaales herabhingen, und die seiner Zeit Jakobsohn aus dem heiligen Land geholt hat. Und wenn diese Substanz sich verwandelt hat, fanden wir auch allgemein das, was man Lebensgefühl nennt. Ich bitte das nicht zu oberflächlich oder zu einfach zu verstehen.
(….)


Anmerkungen

(1) soll wohl „theoretischer“ heißen.

Aus: Die Zwanziger Jahre des Deutschen Werkbunds
Reihe: Werkbund-Archiv, Nr. 10