ware schönheit

eine zeitreise

25. Jun – 3. Okt 1999

Eine Ausstellung über den Warencharakter der Dinge

Das Werkbund-Archiv hat 1999 zur Wiedereröffnung des Hauses unter dem neuen Namen „Werbundarchiv – Museum der Dinge“ eine thematische Ausstellung mit dem Titel “ware schönheit – eine zeitreise” realisiert, die sich mit dem Typus der thematischen Ausstellung auseinandergesetzt hat und inhaltlich einer wesentlichen Bedingung der Dinge gewidmet war, ihrem Warencharakter (vergl. die Publikation: Museumskiste Nr.1, Museum der Dinge, Berlin 1999).

Die Objekte in der Sammlung des Museums sind durch die industrielle Massen- und Warenproduktion geprägt. Insofern waren die vorrangigen Fragen in diesem Projekt: Was ist eine Ware? Welchen Einfluss hat die Warenförmigkeit auf den Status der gesammelten Objekte im Museum?

Seit Marx wissen wir: Die Ware ist ein Verhältnis. Man muss sich nicht in der politischen Ökonomie verlieren – im Alltagsbewusstsein weiß jeder selbstverständlich, dass man nicht einfach Zigaretten kauft, sondern zugleich Freiheit und Abenteuer, nicht nur Waschmittel sondern gleichzeitig ein gutes Gewissen, keinesfalls einfach eine Uhr sondern eine Swatch. In der Ausstellung wurde den Spielarten dieses „Ware“ genannten Verhältnisses nachgegangen und verschiedenen historischen Versuchen, dieses Verhältnis zu gestalten: der dialektischen Einheit von Nutzen und Schönheit, von Form und Funktion, der Spannung zwischen Substanz und Schein, dem Verhältnis von Körper und Hülle, der Ambivalenz von Gebrauchswert und Tauschwert, der Ware als „sinnlich übersinnlichem Ding“, der „Einheit von nützlichem Ding und Wertding“.

Um den Warencharakter aufzuspüren, wurden nicht nur philosophisch/theoretische und designgeschichtliche Allgemeinplätze, sondern auch signifikante historische Schauplätze der letzten 200 Jahre aufgesucht – bis zu den Anfängen der Warenproduktion.
Besucherinnen und Besucher waren eingeladen, auf eine rückwärtsgewandte Zeitreise zu gehen, allerdings ohne, am Ende angekommen, eine kontinuierliche Geschichte zu haben – sei es nun die große Geschichte, die Kultur- oder Designgeschichte. Geliefert wurden Fragmente, die Geschichten erzählten oder sich zu bruchstückhaften Geschichten ordneten – im Kopf, der besten Zeitmaschine.

Die Ausstellung rückte mit Elementen der virtuellen Bespielung in die Nähe zum Theater. Sie bot Raumbilder – aus Dingen, Projektionen, Bildern, Geräuschen und Gestalten formiert. Die Dinge waren die Hauptakteure, obwohl sich die Bilder immer wieder davor schoben. Es handelte sich um Objekte, die der Sammlung des Museums angehörten sowie Gäste aus anderen Sammlungen und Museen. Die Dinge kamen zur Sprache und zeigten sich in wechselnden Verkleidungen, hinter sprechenden Maskierungen. Thematisiert wurde das Wesen ihrer Gestaltung, der gute und der schlechte Geschmack, ihre Schatten, ihre Eignung als Projektionsfläche für Bilder, Zeichen, Wünsche und Sehnsüchte.

Entstanden ist eine Folge von acht Räumen, die als Szenen auf einen signifikanten historischen Zeitraum bezogen waren. Jede Szene hatte einen Namen, der verbunden mit dem jeweiligen Zeitraum in die Ausstellung projiziert wurde. Die Szenentitel „erscheinen“, „codieren“, „bezeichnen“, „entzeichnen“, „maskieren“, „stilisieren“, „bemustern“, „tauschen“ waren abgeleitet aus einer inhaltlichen Facette des Warencharakters, die ihren jeweiligen Ursprung in einer historischen Situation hatte, die in der Ausstellung aber nicht konkret dokumentiert wurde.

Die erste Szene „erscheinen“, in der vor allem das heutige cross-over von Mode, Design, Kunst thematisiert wurde, bezog sich auf den fiktiven Zeitraum „heute“ und die letzte Szene hatte den Titel „bemustern“ und bezog sich auf den ebenfalls fiktiv zu verstehenden Zeitraum vor ca. 200 Jahren .

Mit der Französischen Revolution wurde der König zum Kunden, wanderte die Lilie auf die Teller der Bürger, lösten sich die alten Ordnungen und Gefüge auf, wurden die Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Zeichen austauschbar. Die Entwicklung der industriellen Massenproduktion führte dazu, dass sich die Bindung des Menschen an die Gegenstände seiner Umgebung und seines Gebrauchs auflöste, auflösen musste. Die äußere dingliche Realität wurde mehr und mehr der ästhetischen Wahrnehmung unterworfen. Schönheit wurde zum Maßstab in der alltäglichen Beurteilung von Dingen, in denen man bisher nur Nützlichkeiten sah.

Kunst als allen gemeinsame und verallgemeinernde Sprache wurde zum Muster, zu einem Katalysator, der industrielle Produkte in Gegenstände des Konsums verwandelte.

In den Mustersammlungen des 19. Jahrhunderts wurden die formalen Elemente der Kulturen aller Zeiten und Länder für die Warenproduktion verfügbar gemacht. Der Modus der Anordnung entsprach dem Wunsch nach einer lehrbaren Grammatik der Künste.
Die Institution Museum hatte im 19. Jahrhundert die Aufgabe, diese Grammatik zu lehren und arbeitete an einem Verständigungszusammenhang zwischen der Kunst, der modernen Kunstöffentlichkeit, der Masse als Konsument und der Konsumgüterproduktion. Durch das Verbreiten von Ordnungsprinzipien und Bedeutungsgehalten spielte es eine wesentliche Rolle in dem Konzept, Geschmacksbildung als Gewerbeförderung zu propagieren.

Raumbild „bemustern“
Diese historische Dimension bildete den Hintergrund für das Raumbild “bemustern”, eine vollständig objektfreie, multimediale Installation. In einem ca. 300 qm großen, weißen, d.h. vollkommen abstrakten Raum hing dezentral ein weißer mit Projektionsfolie überzogener Würfel (Seitenmaß: 220×220 cm) von der Decke, ca. 60 cm über dem Boden schwebend. Als zweites Element hingen ebenfalls von der Decke bis auf den Boden ca. 40cm breite, weiße Transparentpapierstreifen, auf denen untereinander, in schwarzer Schrift, Begriffe standen; es handelte sich um die Kopie des alphabetischen Registers aus dem Buch „Systematik kulturhistorischer Sachgüter“ von Walter Trachsler (Bern 1981), eines Standardwerks zur musealen Einordnung von Objekten.
Die Papierstreifen füllten labyrinth-artig den Raum bis auf die „Lichtung”, in der der Projektionswürfel schwebte. Mittels einer Computer-gesteuerten Beamer-Projektion auf alle vier Würfelseiten wurde dieser ständig neu bemustert. Das Bildmaterial entstammte den Vorlagenbüchern und Mustermappen des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Ornamente verschiedener Kulturen und historischer Epochen enthielten. Das Bildmaterial war in eine schlüssige, überwiegend chronologische Dramaturgie gebracht und die Bildprojektion wurde in inhaltlichem, assoziativen Bezug auf die Motive musikalisch begleitet.
Diese Installation bildete den dramaturgischen Höhepunkt der Ausstellung und machte den thematischen Kern sinnlich erfahrbar: Die Ware als abstraktes Ding, das permanent in neuen Verkleidungen auftritt.

Die anderen Raumbilder der Ausstellung „ware schönheit“ bezogen sich auf spezielle Aspekte der Warenkultur: Die Szene „tauschen“ bezog sich auf den Handel, den Markt als Ort des Warentauschs. Hier war eine Sammlung von Kaufmannsläden der verschiedensten Art präsentiert, die zeitweilig mit einem als Videosequenz eingespielten Blick in die Frankfurter Börse konfrontiert wurde.
Unter dem Titel “stilisieren” war ein Komplex von Wedgwood-Vasen ausgestellt, frühe als Kopie antiker Vasen in England hergestellte Waren des 18. Jahrhunderts.
Die Ding- bzw. Warengestalt oder weniger prosaisch, die Schönheit erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Niedergang, Historismus genannt. Sie wurde zum beliebig applizierbaren Ornament, zum überflüssigen Schnörkel und mündete in einen unübersichtlichen Stilwust. Diesem Hintergrund wurde ein Raum gewidmet, der unter der Bezeichnung “maskieren” den Sammlungsbereich der Surrogate (Imitationen/Ersatzstoffe) des Museums zeigte.

Der Historismus forderte eine Stilwende heraus, zur letzten Jahrhundertwende. Die strukturierende Funktion des Museums reichte nicht mehr aus und es bedurfte einer neuen Brücke zwischen Kunst und Industrie, um beweglicher auf die Bedingungen des Marktes reagieren zu können. Der Deutsche Werkbund übernahm zu Beginn dieses Jahrhunderts die Vermittlerfunktion, die Rolle einer Agentur.
Er entwickelte verschiedene Strategien, das Bild einer einheitsstiftenden Kultur aufrecht zu erhalten und der Degradierung der visuellen Zeichen entgegen zu wirken. Wie Frederic Schwartz in seiner Untersuchung „Der Werkbund“ dargelegt hat, versuchte der Werkbund, die potentielle Kakophonie der Warenzirkulation in einer modernen kapitalistischen Wirtschaft zum Schweigen, das visuelle Chaos der Moden unter Kontrolle zu bringen, und beteiligte sich letztlich doch an dem nicht aufzuhaltenden Prozeß, daß die auf dem Markt zirkulierenden Zeichen dem Konsumenten als ein neues, gänzlich abgelöstes Bild der Warenwelt entgegentraten. Es blieb ein utopischer Versuch, den Tauschwert als reinen Ausdruck des Gebrauchswerts zu etablieren.
Zwei Räume mit dem Titel “entzeichnen” und “bezeichnen” bezogen sich auf diesen Kontext, der eine mit Blick auf den Impuls gegen z.B. historistische Möbel und die Wende zum Funktionalismus, die Suche nach der reinen Form, die sich aus der Funktion ergibt.
Die Szene “bezeichnen” war nicht konkret auf einen musealen Objektbereich bezogen, sondern hat das Thema in ein abstraktes Raumbild aus Schneiderpuppen übersetzt, auf die verschiedenste Warenlogos platziert wurden. Der Zusammenhang von Körper und Warenzeichen wurde auf einer zusätzlichen Bildebene zugespitzt. Als Diaprojektion waren historische Aufnahmen von sogenannten Sandwichmännern zu sehen, durch die Straßen laufende Werbeträger, als Waren verkleidete Menschen.
Der utopischen Dimension und den geschmackserzieherischen Ansprüchen des Werkbunds stehen wir seit der Postmoderne gelassen gegenüber. Spätestens heute ist angesichts der digitalen Revolution der Unterschied zwischen Substanz und Erscheinung obsolet, der Wunsch nach Übersichtlichkeit auf dem Warenmarkt angesichts noch starker Marken in einem Meer von Submarken und Subsubmarken und no-name, geklauten und verfremdeten Marken unwichtig geworden. Den guten Geschmack hat man oder man hat ihn nicht; der schlechte Geschmack hat sich in trash-culture nobilitiert. Die Marktstrategien passen sich der Chaos-Theorie an oder jagen wie das Business in Bewegung den neuesten Trends hinterher.
Das tat die Ausstellung “ware schönheit” auch und folgte dem Trend des Crossover von Kunst, Mode, Design. Im Chaos der Bedürfnisse und Wünsche, Ideologien und Sinnformen wirkt ein Trend wie ein seltsamer Attraktor, der zumindest im Raum des Marktes ein Ordnungsmuster produziert.

Die Ausstellung „ware schönheit – eine zeitreise“ war eine thematische Ausstellung und hat versucht den Unterschied zu einer Sammlungspräsentation explizit zu machen. Ausgangspunkt war ein Thema, ein kulturhistorischer Zusammenhang, es wurde eine Geschichte erzählt, die obwohl auf wissenschaftlicher Forschung beruhend in ihrem fiktionalen Charakter betont wurde (science-fiction). Die Geschichte, die der Ausstellung als eine Art Drehbuch diente, war in Märchenform geschrieben: „Das Ding und seine neue Kleider“, abgeleitet von dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen. Das Andersen-Märchen von 1835 bot sich deshalb an, weil es die Verwandlung eines Dings in eine Ware thematisiert, indem der Kaiser zum Konsumenten wird, der auf den Warenschein – den „wunderbarsten Stoff“ aller Zeiten hereinfällt. Ausgehend von diesem Märchen als assoziativer Bezugspunkt für die Ausstellung ließ sich die Ausstellung in ihrem Schauspielcharakter szenisch entwickeln. Im Gegensatz zur „Unbeständigen“ mit seinen einzelnen austauschbaren Raumbildern zu einzelnen Sammlungskomplexen gab es bei „ware schönheit“ eine Aufeinanderfolge von Szenen, die aber in verschiedenen Richtungen lesbar waren.
In diesem ausstellungstheoretischen Kontext spielten die Dinge explizit Rollen entsprechend dem Thema der Ausstellung, dem Warencharakter der Dinge, und illustrierten nicht dieses Thema. Die für die Ausstellung ausgewählten Objekte waren von ihrer Struktur „Schauspielerdinge“, d.h. Objekte, die in ihrem vor-musealen Leben vorgaben etwas anderes zu sein als sie waren, wie beispielsweise Gipsabgüsse antiker Skulpturen oder die Surrogate/Imitate bestimmter Materialien und Funktionen oder die als Ware verkleideten Menschen – die sogenannten Sandwichmänner.
Zentrales Gestaltungselement war die Projektion; auf die ausgestellten Dinge und die Ausstellungsräume als Ganzes wurden Bilder projiziert, so dass sich die Ausstellung in einer ständigen Metamorphose befand. Fast alle Räume wurden in einem bestimmten Rhythmus und einer bestimmten Abfolge mit Ton und Bildprojektion „bespielt“.

„Drehbuch“ zur Ausstellung „ware schönheit – eine zeitreise“
Das Ding und seine neuen Kleider – Ein Märchen

I. Es war einmal ein Ding, das fand sich nach einer großen Revolution in einer neuen Zeit und in einem neuen Raum wieder. Die Ordnung, in der es sich früher aufgehoben gefühlt hatte, war zusammengebrochen. Das Ding wusste nicht mehr, was es eigentlich war. Es kam sich ganz unpassend vor und fühlte sich merkwürdig nackt. Niemand schien es mehr so wahrzunehmen wie früher. Alle Welt riet ihm, Ware zu werden und sich für dieses neue Auftreten ein entsprechendes Kostüm zu besorgen. „Wie werde ich bloß Ware“, grübelte das Ding vor sich hin. Da lief ihm ein Schneider über den Weg, der dem Ding das kunstvollste Kostüm überhaupt versprach. Dieser Schneider hatte alle Länder und Zeiten bereist und den toten Kunstdingen die Haut abziehen lassen, um daraus den wunderbarsten und prachtvollsten Stoff herzustellen, den es je gegeben hat. Der Stoff konnte sich jeder Form anpassen und sich überhaupt ständig verwandeln. Das Ding war vollkommen verwirrt von der ihm vorgeführten unendlichen Vielfalt der Formen, Farben, Muster und Zeichen.

II. Um der Verwirrung sofort zu begegnen, führte der Schneider das Ding in einen besonderen Raum seines großen Lagers, zeigte ihm ein Stoffmuster für sein neues Kostüm und fing an zu deklamieren: „Das ist wahre Kunst, stille Einfalt und edle Größe aus der Zeit der göttlichen Antike.“ Der Schneider erzählte von der Zusammensetzung und Produktionsweise des Stoffes, von der Zeit und dem Ort, an dem der Rohstoff gefunden wurde, davon, wie mühsam es war, ihn aus der Erde zu bergen. Gebannt folgte das Ding den Erzählungen des Schneiders, und begeistert nahm es dessen Angebot an, das neue Kleid anzuprobieren. So schlüpfte es in die Form und die Farbe einer antiken Vase und betrachtete seine neue Warengestalt staunend im Spiegel.

III. Ein zweiter Schneider, noch gieriger nach Aufträgen, kam dazu und begann, auf das Ding einzureden; es wolle doch nicht in der lächerlichen Pose einer Vase verharren, die nur eine antike Vase repräsentiere und nicht einmal als Vase zu benutzen sei. „Folge mir in mein Stofflager. Wenn Du wirklich verführerisch sein willst, musst du dich in den Stoff hüllen, den ich anzubieten habe. Jeder, aber auch jeder wird dich haben wollen. Du wirst Glanz und Luxus in jede Hütte bringen. Du wirst Dich in alles Erdenkliche verwandeln können“, führte der Schneider mit funkelnden Augen und großen Gesten aus. In diesem Wunderstoff könne das Ding mal die warme und natürliche Ausstrahlung des Holzes annehmen, mal die kühle und elegante des Marmors, mal den matten Glanz der Perle, mal die extravagante Haut der Schlange überstreifen, mal glitzern wie ein Kristall oder ein Diamant. Unermüdlich ließ sich das Ding auf das neue Spiel ein und schlüpfte von einer Hülle in die andere. Bald konnte es nicht mehr glücklich sein, wenn es sich nicht immerfort in einer neuen Gestalt bewundern konnte.

IV. Ein dritter Schneider trat auf, riss das Ding erbarmungslos aus seinem lustvollen Taumel und seiner letzten Hülle und verschleppte es in ein neues Materiallager, das, übersichtlich und streng geordnet, vor allem Sauberkeit ausstrahlte. Er überschüttete das Ding mit einem Eimer kalten Wassers und begann, wild an ihm herumzuputzen. Alle Spuren der früheren Kleider sollten beseitigt und eine porentiefe Reinheit hergestellt werden, dann würde er das Ding in den einzig richtigen und ehrlichen Stoff hüllen. Erhitzt vom eifrigen Putzen, aber mit großem Ernst sprach der Schneider, „Vergiss die alten Fummel, die man dir angelegt hat! Alles Lug und Trug! Reine Verführung! Du brauchst keine Muster und Ornamente. Zeig, was du bist und verstecke dich nicht. Hab Vertrauen zu mir. Ich werde dir zum Ausdruck deines wahren Wesens verhelfen: Trage deine Nacktheit als Kleid!”
Einerseits war das Ding stolz darauf, dass soviel Ausdruck in ihm selbst liegen sollte, andererseits fehlte ihm ein bißchen die Pracht der früheren Gewänder; außerdem fror es ein wenig.

V. Der Schneider sah, dass sein Kunde unzufrieden war, und überlegte, wie er dem abhelfen könne. Tatsächlich ließ der von ihm verarbeitete Stoff das Ding so schlicht erscheinen, dass es inder unübersichtlichen, schreienden Farben- und Formenvielfalt leicht übersehen werden konnte. So sann er auf einen Zusatz im Gewebe, der das Kleid und damit das Ding unverwechselbar machen würde. Er entwarf ein magisches Zeichen, das dem Ding – an markanter Stelle appliziert – Einzigartigkeit im Waren-Dickicht verleihen sollte.

Das Ding wurde in einen neuen Lagerraum geführt. Dort stellte es zu seiner Verwunderung fest, dass der Schneider das gleiche Kleid auch mit anderen Zeichen versehen hatte! Und nicht nur das, es erkannte sein eigenes Zeichen auf unendlich vielen anderen Dingen wieder! Tief gekränkt in seinem Wunsch nach besonderem, individuellem Ausdruck, stellte es den Schneider zur Rede, der nur höhnisch antwortete: „Was hat die Individualität mit den Kleidern zu tun?“

VI. Völlig irritiert entfloh das Ding diesem und jedem Schneider und gelangte nach einer mühevollen Wanderung an einen Ort abseits von Raum und Zeit; der war ganz still und leer. Nur Schatten, merkwürdig gleichförmige Schatten waren zu sehen. Ganz leise wurde geflüstert. Das Ding meinte seinen Namen zu hören und wollte dem Flüster- und Schattenspiel auf dem Grund gehen. Hinter der Schattenwand sah es nur Hüllen, leere Kokons am seidenen Faden. Aber bevor das Ding irgendetwas ergründen konnte, wurde es von einem Blitzlicht getroffen. Erst war es erschrocken, dann stellte es sich geschmeichelt in Positur, da es annahm, man wolle es fotografieren. Verstört vom vielen Blitzen stolperte das Ding auf einen bewegten Untergrund, der es in den nächsten Raum trug.

VII. Dort hatte der Schrecken kein Ende. Wie in einer Geisterbahn tauchten merkwürdige Gestalten und immer neue Bilder aus unergründlichen Tiefen auf, an denen das Ding vorbeigeschleust wurde. „Das sind ja alles nur Bilder,“ versuchte es sich zu beruhigen.

VIII. Fort getragen zu dem Ziel und Zweck der Reise, gelangte das Ding an den Ort des Warentauschs. Dort herrschte ein lautes und chaotisches Geschrei, es flimmerte und klingelte überall, das Ding wurde hin und her geschüttelt und schließlich vom Band geworfen. Es dachte: „Bloß weg von hier“ , richtete sich auf und wollte wegrennen. Da wurde der Raum plötzlich ganz still. Das Ding sah ein langes, durchsichtig schimmerndes Gehäuse, in dem viele kleine Artgenossen lagen, anmutig arrangiert und liebevoll ausgeleuchtet. Und es dachte sich: „Ach, hier möchte ich bleiben, hier bin ich vor allem sicher, hier habe ich ein ruhiges, behütetes Leben.“ Durch einen Spalt schlüpfte es in das Gehäuse, das wunderbar mit Samt ausgeschlagen und gläsern überkuppelt war. Und wenn es nicht gestorben ist, so lebt es noch heute im Museum der Dinge.


Kuration

Renate Flagmeier